Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
hartnäckigen Wunsch erklären, in seinem Leben eine zweite Seite aufzuschlagen. Wahrscheinlich vergingen für ihn die Jahre mit der Flucht in diese Träume. Dann war für ihn eines Tages der Abschied von der Arbeitswelt gekommen. Damals sah ich seine Frau zum ersten und zum letzten Mal. Sie war wirklich eine unerträgliche Frau. Es schien, als übte sie mit ihrer ausladenden Fülle, ihren riesigen Händen und dem entschiedenen Auftreten über den gemächlichen, schmächtigen Şevket ihre Herrschaft aus. Sie kam eines Tages in den Laden, begann mit meinem Vater heftig über die Abfindung zu verhandeln, und im Streit schlug sie dabei heraus, was sie nur konnte. Danach habe ich auch Şevket nie wiedergesehen. Ich habe nie erfahren, ob er auf die Scholle zurückgekehrt war, wo er geboren war und seine Kindheit verlebt hatte, um das von ihm ersehnte Leben zu beginnen, oder ob er sich der Anziehungskraft Istanbuls nicht hatte entziehen können und auf der Spur des Traums, der ihn jahrelang ans Leben gebunden hatte, gestorben war. Vielleicht atmen wir beide immer noch die Luft am selben Ort. Wir leben in einer Stadt, die viele Leben an vielen unterschiedlichen Plätzen mit vielen geheimen Gesichtern in sich birgt … Derartig viele Menschen mit so vielen verschiedenen Sehnsüchten verlieren sich und gehen dahin in den einander fernen und fremden Straßen, den Wohnvierteln dieser Stadt …
    Mordo jedoch, der wohl vier, fünf Jahre ältere Cousin meines Vaters, der genauso wie Kemalettin nach der Pleite seines Geschäfts in jenem Laden Zuflucht, besser noch, Unterschlupf gefunden hatte, hatte ein poetisches Gemüt und fürchtete sich sozusagen vor seinem eigenen Schatten. Jedesmal, wenn wir über politische Dinge sprachen, schaute er ängstlich, nervös umher und sagte, ich solle meine Stimme dämpfen. Seiner Ansicht nach hatten die Wände Ohren, und jeder, selbst Leute, von denen man es nicht vermutete, konnte sich als Geheimpolizist herausstellen. Die Geschichte seines Konkurses war bitter, eine andere Art von Verhängnis. Wenigstens das hatte ich herausbekommen. Wiederholt hatte er davon erzählt, was er erlebt hatte, und den Vorfall geschildert, der dazu geführt hatte, daß er buchstäblich völlig erledigt war. Die Lügen, mit denen er seine Erzählung hin und wieder ausschmückte, zog ich freilich ab. Manchmal änderten sich die Orte, manchmal die wörtlichen Reden, manchmal die Kleidung und manchmal auch jene ›erotischen Augenblicke‹ … Er hatte eine ausschweifende Phantasie. Nach Ansicht meines Vaters war das die größte Stärke seines Lebens. Waren diese Worte auch nicht gerade verächtlich gemeint, so waren sie doch abschätzig. Aber ich liebte gerade diese Seite an ihm, warum soll ich es leugnen. Auch wenn er die Erzählung ab und zu mit kleinen Lügen ausschmückte, den Kern veränderte er nie. Er hatte eine Parfümerie gehabt. Zwar war es eine kleine, aber sie brachte ihm nicht nur genug ein, daß er seiner Familie ein gutes Leben bieten konnte, wozu eine Wohnung mit Zentralheizung im Stadtteil Kurtuluş gehörte, Kleidung, in der man sich nicht zu schämen brauchte, und in den Sommermonaten ein kleines Haus auf der Insel Büyükada. Es war auch genügend Geld für die drahoma , die Aussteuer der Töchter, da, als es soweit war. Das waren seine Worte, die ganz offen zeigten, wie er sich im Leben zu behaupten versucht hatte. Jene gekränkte Stimme ist mir noch immer im Ohr.
    Doch nach dieser Einleitung, die zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Worten erzählt wurde, fing der zu Herzen gehende Teil der Erzählung an. Dann verstand man jene Gekränktheit um so besser. Eines Tages verliebte er sich in eine Gymnasiastin, die jünger war als seine Töchter und mit ihrem nach Kaugummi riechenden Atem, ihrem sauberen Duft regelmäßig in den Laden zu kommen begann … Er verliebte sich ganz fürchterlich … Das waren seine eigenen Worte. Als die Sache herauskam – irgendwie war sie herausgekommen –, brach natürlich ein Sturm los. Damals schrieb er dem Mädchen Gedichte, wie er es seit seiner Schulzeit gewohnt war. Das Mädchen aber verlangte als Gegenleistung für ein paarmal Beschnuppern und ein paar verstohlene Küsse von ihm ständig kostenlos Parfüm, Kosmetikartikel und vor allem Geld. Schließlich rächte sich seine Frau, indem sie, ohne ihn zu informieren, die Wohnung, die auf ihren Namen lief, Hals über Kopf verkaufte, eine größere Geldmenge vom gemeinsamen Bankkonto abhob und mit ihren

Weitere Kostenlose Bücher