Wodka und Brot (German Edition)
Solange er sprach, hatte ich mich nicht bewegt, noch nicht einmal die Augenlider, um seine Aufmerksamkeit nicht abzulenken. Jetzt betete ich zum Himmel, er möge eine Wolke über unseren Köpfen aufbrechen lassen, um den Jungen zu erschrecken, um uns in die Flucht zu treiben, um die Worte wegzuschwemmen und in alle Richtungen zu verteilen. Aber der Himmel hatte Takt genug, wenigstens verspottete er die Bedürftigen nicht, denen er zuschaute, ohne einen Finger für uns zu rühren. Und ich, hätte ich genug Kraft gehabt, hätte den Himmel mit der Faust geschlagen, hätte das Himmelblau zerkratzt.
Mit dem Himmel und ohne ihn, die Flut der Worte war gestoppt, die Batterie war leer, der Strom war unterbrochen. Er schaute mich mit leeren Augen an, als wäre ich in seiner Netzhaut stecken geblieben und als wüsste der Sehnerv nicht, wie er mich ins Innere bringen sollte. Also drang ich in ihn über das Fleisch, ich fiel ihm um den Hals, ich umarmte ihn aus aller Kraft, um mir etwas von dem Geliebten zu nehmen, seinem Geschmack, seinemGeruch, seiner Wärme, ich spürte seine Knochen, die ganz dicht unter der Haut lagen, wie viel weniger er in den letzten Monaten geworden war, ich drückte ihn an mich, wie man ein Kind an sich drückt, er blieb steif, seine Schultern waren steif, und seine Arme hingen herunter wie die Ärmel eines Hemds an einer Wäscheleine, lang, schön, dünner die Hände, die einmal jedes Härchen und jede Pore an mir kannten. Der Junge sah, wie wir uns umarmten, er hielt in seiner Beschäftigung inne und kam näher, um das Wunder zu sehen, auch der Hund ließ alles stehen und liegen und kam, er verstand nicht, was geschah, aber vielleicht verstand er es besser als wir alle und wollte seinen Herrn retten, ihn von mir wegziehen, er bellte, und wir lösten uns voneinander. Wer uns von oben betrachtete, verstand, dass man aus dem Ereignis nicht mehr herauspressen konnte, als darin war, er beschloss, es genug sein zu lassen, und öffnete die Absperrung der Wolken und ließ einen Schwall auf uns herunterprasseln. Wir rannten mit schweren Beinen zum Lieferwagen, um Schutz zu suchen. Schweigend saßen wir da und schauten hinaus auf den Regen, der Hund auf der Rückbank, wir, den Jungen in der Mitte, auf der Vorderbank. Vielleicht haben sich die Ärzte geirrt, sagte ich, vielleicht fahren wir ins Ausland, um Rat bei irgendeinem berühmten Arzt zu suchen, vielleicht gibt es ein Medikament, von dem man hier noch nichts gehört hat, aber er sagte: »Genug, lass das«, und betrachtete weiter den Regen, distanziert und abgeschnitten. Ich wusste, dass die Ärzte sich nicht geirrt hatten. Dass es keinen Stein gab, den dieser Mann nicht umgedreht hatte, dass er alles erforscht und hinterfragt hatte, bis er es verstanden und das Urteil angenommen hatte. Nadav fragte, was ist mit dem Ausland, aber er beharrte nicht darauf, er kapierte,dass diese Worte nichts bedeuteten. Während ich noch darüber nachgrübelte, wieso ich nichts verstanden und zugelassen hatte, dass er diesen Albtraum allein durchstehen musste, hielt der Jeep neben uns, Fenster an Fenster mit dem Lieferwagen, und trotz des Regens, der zwischen den beiden Autos fiel, und trotz der beschlagenen Fenster sah ich Amos an, dass er bereits wusste, was ich gerade erst erfahren hatte, er beschäftigte bewusst einen Mann, der zu den zwei Prozent gehörte, die das in jungen Jahren bekommen. Vielleicht wollte er sich dafür revanchieren, dass ich ihm Unterschlupf gewährt hatte, und dafür, dass ich mich um das Grab seines Sohnes kümmerte, dafür, dass ich ein Auge auf seinen Vater hatte, und vielleicht entsprach Gideon seinem Bedürfnis, trotz der Atrophie, die seinen Verstand vernichtete. Mitleid schloss ich aus.
»Gib Papa einen Kuss und sag ihm Auf Wiedersehen«, sagte ich zu Nadav.
»Wieso, gehen wir schon weg?«
»Papa geht weg.«
Der Junge, mit einer noch unbelasteten Intuition, stellte keine Fragen, er kniete sich auf den Sitz, schob die eine Hand zwischen Gideons Rücken und die Lehne, die andere legte er auf die Brust seines Vaters, drückte den Mund auf seine Wange, küsste und umarmte ihn. Gideon kratzte seinen Rest Gesundheit zusammen, erwiderte den Kuss, rieb sein Kinn an der Stirn des Jungen und ließ ihn los. Nadav rutschte wieder auf seinen Platz und machte sich klein, weil ich mich an ihm vorbeischob, um zu seinem Vater zu gelangen. Ich küsste Gideon auf die Stirn, beugte mich über seinen Kopf und küsste seinen geschorenen Schädel, dann
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