Wodka und Brot (German Edition)
drückte ich eine Folge von Küssen von seiner Stirn bis zu seinem Nacken, wie eine enge Knopfreihe. Hätte ich dochbloß die Krankheit aus seinem Kopf saugen und ausspucken können, saugen und spucken, saugen und spucken, bis sein Gehirn sauber und wie neu gewesen wäre. So, während ich wie eine Brücke über unseren Sohn gestreckt war, gab er mir einen Kuss, der völlig blutleer war, und umarmte mich mit einer Umarmung ohne Muskeln und ohne Nerven. Ich sah einen Kugelschreiber im Handschuhfach des Lieferwagens, nahm seine Hand, an der die Narben von meinen Fingernägeln zu sehen waren, und schrieb auf seine nackte Haut: Ich liebe dich. Dann zog ich den Jungen von ihm weg, sagte: »Komm«, machte die Tür auf, stieg aus dem Lieferwagen und wechselte in Amos’ Jeep. Wir setzten uns auf die Rückbank und sahen aus dem Fenster den Hund, der im Lieferwagen nach vorn wechselte und unseren Platz einnahm.
»Kann er fahren?«, fragte ich den Sohn des Alten.
»Nein. Er weiß nicht mehr, wozu die Schalter im Auto da sind.«
Ich sah durch das nasse Jeepfenster hinüber zum Lieferwagenfenster, sah, wie mein Mann die Arme hob, mit gebeugten Ellenbogen, und die Hände hinter dem Nacken verschränkte, wie er den Kopf zurücklegte und hinauf an die Autodecke schaute.
»Fahr«, sagte ich zu Amos.
»Bist du sicher?«
»Fahr schon.«
Er zögerte noch einen Moment, er wusste, dass dies meine letzte Chance war. Gideons Hände waren noch immer im Nacken verschränkt, sein Gesicht nach oben gewandt, der Hund schmiegte sich an seine Brust und leckte seinen Hals.
Amos ließ den Motor an, und wir fuhren los. Mit einem schnellen Blick nach hinten, durch die regennassen Scheiben,sah ich die feuchte Zunge des Hundes, zitternd und glänzend.
Nadav war begeistert vom Jeep, und das Leben bekam in diesem Moment seine Bedeutung durch das moderne Armaturenbrett, das das Universum in grünlichem Phosphorlicht aufleuchten ließ. Wer für Kinder Blickfelder erschuf, hatte an alles gedacht.
Der Alte erwartete uns an seinem Fenster und war noch älter geworden. In ihm mischte sich Zorn darüber, dass wir weggefahren waren, mit Freude über unsere Rückkehr. Der Junge erzählte ihm vom Jeep, ich sagte nicht viel, aber ich erinnerte mich, dass ich die Sache mit den Schuhen übernommen hatte, und sagte, vorläufig würden wir im Dorf bleiben.
Von morgens bis abends war ich wie Hänsel und Gretel, ich folgte den Brotbröckchen und suchte den Anfang. Suchte nach Vergesslichkeiten, die verstreut auf dem Weg lagen. Da war zum Beispiel jener Schabbat, als er früh aufgestanden war, der Junge und ich schliefen noch, er nahm seine Tasche und die Robe und fuhr zum Gericht, setzte sich auf die Schwelle und wartete darauf, dass der Hausmeister aufschloss, und dann kam ein Mann vorbei und sagte, mein Herr, das Gericht ist am Schabbat geschlossen. Er kehrte nach Hause zurück und zog wieder seinen Pyjama an, konnte aber nicht mehr einschlafen. Wir hatten darüber gelacht, wir dachten, er habe aus lauter Überarbeitung das Zeitgefühl verloren, und beschlossen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Ein rotes Licht ging über unseren Köpfen an, und wir sahen es nicht, was heißt da ein Licht, ein Scheinwerfer. Und was hätte es gebracht, wenn wir es gewusst hätten? Allmählich gingen weitereLichter an, aber unser Unwissen schützte uns, wer dachte an Krankheiten, wer ahnte, dass dieses brillante Gehirn die Herrschaft über seinen Besitzer ergreifen würde.
Madonna und Amjad waren die Ersten, die es erfuhren. In einer Pause zwischen einem Kunden und dem nächsten erzählte ich es ihnen. Wir aßen Brötchen mit Schnittkäse, Madonna saß auf der Theke, ich auf dem Schemel und Amjad auf einer Kiste. Er nahm meine Worte wahr, er hörte auf, das Brötchen zu kauen, schaute auf das Salzwasser im Heringsfass, sein Blick blieb lange an den toten Heringen hängen, er rührte das Brötchen nicht mehr an. Madonna schwieg, senkte den Kopf, zog die schmalen Schultern hoch, sprang von der Theke und umarmte mich. »Ich würde auch sterben wollen, wenn mein Kopf nicht mehr funktioniert.« Schwarze Schminke wurde von ihren Tränen verschmiert. Sie schlang ihre dünnen Arme um mich und weinte lange, vermutlich galt ihr Weinen auch den vielen Schmerzen, die sie in ihrem Leben erlitten hatte, und all den Schmerzen, die noch kommen würden.
Ausgerechnet Jonathan, meinem Bruder, erzählte ich nicht gleich davon, denn ihm wurde in jener Woche ein Sohn geboren. Es wäre taktlos
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