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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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der den winzigen Park am St. James Square einrahmte, und ließ sie nicht aus den Augen. Verlegen senkte sie den Blick.
    Weshalb starrte er sie so an? Sie ließ ihr Haar auf eine Seite ihres Gesichtes fallen und lugte durch diesen Vorhang neugierig zu ihm hinüber.
    Er sah unverschämt gut aus. Sein weißes Hemd war am Hals aufgeknöpft, wodurch er in seinem schwarzen Anzug weit weniger steif aussah als die Geschäftsmänner, denen sie morgens in der U-Bahn begegnete. Immer noch ruhte sein Blick auf ihr.
    Sie schüttelte den Kopf, der sofort schmerzhaft zu pochen begann. Der Abend im Pub mit Jules, Colin, Marie und Chris, der sich nicht hatte abwimmeln lassen, war zu lang gewesen. Sie hatte mehr Bier getrunken, als sie vertrug. Dabei mochte sie es nicht mal besonders.
    Sie sollte sich beeilen und nicht fremde Männer beobachten, auch wenn dieser hier besonders nett anzusehen war. Sie lächelte und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Wo steckte das Ding bloß? Ein Buch, das sie mit sich herumschleppte, fiel auf die Straße. Hastig hob sie es auf. Während sie aufstand, huschte ihr Blick noch einmal zu ihm. Seine Raubvogelaugen starrten sie durchdringend an. Auf die Entfernung sahen sie kohlrabenschwarz aus. Ihre Blicke trafen sich und abrupt wandte er sich ab. Lucy steckte das Buch in die Tasche und lief zur Tür. Sie wagte nicht, sich noch einmal umzusehen. Der Typ war doch nicht so nett, wie er auf den ersten Blick gewirkt hatte, sondern eher etwas unheimlich, so düster, wie er aussah.
    Sie war nicht sicher, ob Marie heute zur Frühschicht eingeteilt war. Doch das Glück war auf ihrer Seite. Sie begrüßte ihre Freundin mit einem Kuss auf die Wange und zog sie zum Kaffeeautomaten.
    »Hast du heute früh mal aus dem Fenster geschaut?«, flüsterte sie ihr zu, während der Automat zu brummen begann. »Da steht ein finsterer, ziemlich attraktiver Typ. Vielleicht kennst du ihn.«
    Marie zog ihre Augenbrauen in die Höhe. »Lucy, Lucy. Ich hätte geschworen, du bist ein Bücherwurm und siehe an: Wer hätte das gedacht? Da hatte meine Grandma wohl recht mit ihrem Spruch.«
    Lucy grinste sie an. »Mit welchem Spruch?«
    »Stille Wasser sind tief.«
    Lucy lief rot an. »So ist das nicht«, versuchte sie zu protestieren. Doch Marie winkte ab. »Ich schau mir das Objekt deiner Begierde mal an. Viel Spaß im Verlies, Kleine.« Damit drehte sie sich um und ging zum Empfang zurück.
    »Mach dir keine Mühe. Er ist sicher schon weg«, rief Lucy ihr hinterher.
    Ms. Drake tauchte plötzlich auf. »Das ist eine Bibliothek und kein Bahnhof«, wies sie Lucy zurecht. »Mäßigen Sie Ihren Ton.«
    Lucy nickte, griff nach ihrem Kaffee und eilte nach unten. Miss Olive erwartete sie ungeduldig. »Wo bleibst du bloß, Mädchen? Du weißt doch, dass heute mein letzter Tag ist. Wir haben noch enorm viel zu tun.«
    »Es tut mir leid, Miss Olive«, entschuldigte Lucy sich. »Es kommt nicht wieder vor, versprochen.«
    »Ja, ja«, winkte Miss Olive ab. »Ich war in meiner Jugend auch nicht gerade ein Kind von Traurigkeit. Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Das Ende kommt früh genug.«
    Verwundert blickte Lucy Miss Olive an.
    »Wir haben heute nur eine Ausleihe«, stellte Miss Olive fest. »Ich möchte, dass du das allein machst. Als Feuertaufe sozusagen. Traust du dir das zu?«
    Lucy nickte. »Welches Buch ist es?«, fragte sie.
    »Es ist eines der letzten Exemplare der Erstausgabe von Alice’s Adventures in Wonderland, der ursprüngliche Titel ist Alice’s Adventures Under Ground, das weiß natürlich kaum jemand«, antwortete Miss Olive. »Es ist eines unserer wertvollsten Stücke.«
    »Und wer möchte es sehen?«
    Miss Olive zeigte ihr die Karte. »Mr. Nathan de Tremaine jr.«
    »Schöner Name”, sagte Lucy.
    »Sein Großvater war ein sehr angesehener Professor am King ’ s College. Er lehrte dort Englische Literatur, bevor er sich vor über achtzehn Jahren auf seinen Landsitz zurückzog. Angeblich, um sich ganz der Forschung zu widmen. Aber man munkelte, dass er es getan hat, um seinen Enkel großzuziehen. Ich habe keine Ahnung, was mit den Eltern des Jungen geschehen ist.«
    Lucy sah Miss Olive verwundert an. Bisher hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass die alte Dame zu den Frauen gehörte, die gern tratschten.
    Miss Olive sah ihren Blick und beeilte sich hinzuzufügen: »Als ich ans King’s College kam, war er noch dort. Wir haben ihn alle angehimmelt. Er sah unverschämt gut aus und seine Vorlesungen waren

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