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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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regelmäßig überfüllt. Allerdings würdigte er keine von uns eines Blickes. Sein Enkel soll ihm an Attraktivität in nichts nachstehen, habe ich gehört.« Sie lächelte verschmitzt. »Davon darfst du dich heute selbst überzeugen.«
     
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    Nathan lehnte immer noch an dem gusseisernen Zaun gegenüber dem Eingang der London Library und dachte nach. Die Hände hatte er in den Taschen seiner schwarzen Hose vergraben. Sie war zu spät gewesen. Schon wieder.
    Er hatte sie bereits letzte Woche beobachtet. Erst hatte sie ihn nicht bemerkt, so versunken war sie in ihre Gedanken gewesen. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, das er sich nicht erklären konnte. Vielleicht weil sie so zerstreut und hilfsbedürftig wirkte? Als sie vorhin niedergekniet war, um das Buch aufzuheben, hatten unter dem dichten Schleier ihres roten Haares eine schmale Nase und ein sanft geschwungener Mund hervorgelugt. Sie sah aus wie jemand, der gern lachte.
    Als sie ihn jedoch angeschaut hatte, und er in ihre grauen Augen geblickt hatte, war da nichts Hilfebedürftiges gewesen.
    Nachdem die schwere dunkelbraune Tür des Einganges hinter ihr ins Schloss gefallen war, hob er seinen Kopf. Er blickte auf das schmale Portal, unfähig, an etwas anderes zu denken als an diese Augen – graue Augen mit silbrigen Sprenkeln. Er hatte diese Augen schon einmal gesehen. Dass das Mädchen diese Augen hatte, war völlig unmöglich. Es konnte nicht sein.
    Nathan überlegte, was er jetzt tun sollte. Er hatte das Buch, mit dem er arbeiten wollte, bereits vorbestellt. Aber nun war er nicht sicher, ob er heute damit beginnen sollte. Kurz entschlossen machte er sich auf den Heimweg.
    Miss Hudson, die das Stadthaus seines Großvaters in der Queen Anne’s Gate und seit drei Wochen auch ihn versorgte, blickte ihn verwundert an, als er das Haus betrat. Ohne eine Erklärung lief er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf.
    Er zog die dunkelblauen Vorhänge vor das Fenster und warf sich angezogen auf sein Bett. Er starrte an die Decke. Die Augen des Mädchens manifestierten sich in seinem Kopf. Konnte das sein? War das möglich? Er versuchte sich an alles zu erinnern, was er über diese Augen wusste. Es war lange her, dass er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Irgendwann fielen seine Augen zu und er versank in einen tiefen traumlosen Schlaf, aus dem ihn Stunden später das Klingeln seines Telefons riss.
    Er setzte sich auf und fuhr sich mit den Händen durch sein schwarzes Haar und über sein Gesicht. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, wo er sich befand.
    Was hatte ihn geweckt? Ein Klingeln. Das Telefon läutete unnachgiebig. Er wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung wartete. Und er wusste auch, dass der Anrufer nicht aufgeben würde.
    Das Telefon klingelte weiterhin unerbittlich. Nathan griff danach.
    »Großvater?«, meldete er sich.
    »Weshalb hat das solange gedauert?«, blaffte es ohne eine Begrüßung aus der Leitung.
    »Ich bin eingeschlafen«, antwortete Nathan entschuldigend und ließ die darauf folgende Predigt wegen der verlorenen Arbeitszeit über sich ergehen. Er kannte sie bereits seit seiner Kindheit.
    »Hat heute alles geklappt?«, fragte sein Großvater, nachdem er seinen Vortrag beendet hatte.
    »Ich habe mit Alice begonnen.«
    Es war eine Lüge und Nathan hoffte, dass sein Großvater nicht spürte, dass er ihn belog. Er würde sich morgen um das Buch kümmern.
    »Gut«, sagte sein Großvater und legte ohne Abschied auf.
    Obwohl das Telefonat ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, fühlte Nathan sich ausgeruht. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mitten am Tag stundenlang geschlafen hatte. Er trat zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite.
     Erstaunt erkannt er, dass es bereits dämmerte. Die altmodischen Straßenlampen spendeten nur spärliches Licht. Er sah hinaus. Regen setzte ein und draußen begannen die Menschen, hastig ihre Schirme aufzuspannen. Der Wind zerrte an den dünnen Stäben. Viele waren nicht warm genug gekleidet, trotz der Kälte, die die Stadt langsam aber sicher überzog.
    Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Die Lampen tauchten den Treppenaufgang in warmes Licht. Nathan fühlte sich wohl hier. Endlich hatte er einmal ein Haus für sich allein, wenn man von Miss Hudson absah. Er war die ewigen Pensionen und Hotels leid gewesen, in denen er die letzten vier Jahre verbracht hatte. Das schmale, weiß getünchte Stadthaus in London war ein ganz besonderer

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