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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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still. Sie versuchte tatsächlich, mit den Büchern zu sprechen. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Das war völlig verrückt.
    »Das ist nicht verrückt«, wisperten die Bücher im Chor. »Du musst uns folgen.«
    »Ok«, erwiderte Lucy resigniert.
    Das Raunen führte sie innerhalb weniger Minuten zu dem Karton von Alfred Tennyson. Lucy zog ihn heraus und öffnete ihn. Sie war nicht wirklich überrascht, als sie es erneut durchblätterte. Die Seiten wirkten noch brüchiger als beim ersten Mal. Nachdem sie den Karton wieder an seinen Platz gestellt hatte, lehnte sie sich gegen das Regal. Sie fühlte sich ausgepumpt.
    »Komm«, hörte sie die Bücher. »Wir möchten dir noch etwas zeigen.«
    »Noch etwas?«, fragte Lucy. »Ich finde, ich habe genug gesehen.« Die Stille, die ihren Worten folgte, erschien ihr traurig.
    »Ist ja schon gut. Tut mir leid«, flüsterte sie. »Was ist es diesmal?«
    Die Bücher führten Lucy tief in das Innere des Archivs. Lucy wusste, dass die Temperatur in allen Räumen gleich niedrig war, trotzdem erschien es ihr hier wesentlich kälter. Gänsehaut kroch durch ihren Körper, als das Wispern endlich stoppte. Wieder wusste Lucy sofort, welcher Karton es war, den die Bücher ihr zeigen wollten. Auch er verströmte diese unnatürliche Stille.
    Der Karton war alt. Beinahe zu alt, als dass darin ein wertvolles Buch aufbewahrt werden konnte. Die Muster, die ihn verzierten, waren verblasst. Die ehemals feste Pappe war brüchig und von tiefen Falten durchzogen. Das kleine Schild, auf dem normalerweise der Titel des Buches stand, war verschwunden. Lucy sah auf den Boden. Nirgendwo war etwas zu sehen. Dann legte sie beide Hände auf den Karton. Was sie spürte, ließ sie zurücktaumeln. Sie atmete hektisch ein und aus.
    Da war nichts. Da war nicht einmal Stille. Das war mehr als Stille – es fühlte sich tot an. Lucy spürte, wie eine Träne sich aus ihrem Auge löste, und wischte sie ärgerlich fort.
    Sie griff nach dem Karton und zog ihn heraus. Er war leicht, deutlich leichter jedenfalls als der Karton von Tennyson. Lucy gruselte sich vor dem, was sie gleich sehen würde. Vorsichtig hob sie den Deckel hoch.
    Man konnte die Farbe des Einbandes nur noch erahnen. Vielleicht war er dunkelbraun gewesen, vielleicht auch schwarz oder grau. Die ehemals goldenen Schriftzüge zerfielen in dem Moment, in dem sie den Karton öffnete. Ein winziger Luftzug genügte und vor Lucys Auge zerbröselte die Information. Sie verzichtete darauf, den Buchdeckel aufzuschlagen. Sie wusste, was sie dort erwartete. Nur Leere, nichts als Leere. Welches Buch mochte das gewesen sein? Es gab keine Möglichkeit für sie, das herauszufinden. Das Schlimmste war, dass niemand es vermissen würde. Langsam schloss Lucy den Deckel wieder und schob den Karton zurück.
    Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.
    »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte sie in die Stille. Sie bekam keine Antwort. »Ihr müsst mir verraten, weshalb ihr mir das alles zeigt?« Sehr leise setzte das Flüstern wieder ein. »Das musst du allein herausfinden.«
    »Na super«, erwiderte Lucy.
    Dann schwiegen die Bücher. Lucy ging zurück in ihr Büro, sank auf den Drehstuhl vor ihrem Schreibtisch und schwenkte gedankenverloren hin und her.
    Miss Olive, Jules und Colin hatten nie von Tennyson gehört. Sie selbst hatte den Text seines bekanntesten Gedichtes vergessen und im Internet war nichts über ihn zu finden. Es schien, als hätte er nie existiert oder nur in ihrem Kopf.
    Lucy schaltete den Computer aus und stand auf. Sie hatte keine Bestellungen für die nächsten zwei Stunden. Sie würde ihre Mittagspause nutzen, um herauszufinden, wer sich an Tennyson erinnerte. Ob sich überhaupt jemand an Tennyson erinnerte. Es konnte nicht sein, dass dieser Dichter so mir nichts, dir nichts aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden war. Lucy weigerte sich, das zu glauben.
     
    »Ich hab was Dringendes zu erledigen, Marie«, rief Lucy ihrer Freundin im Hinausgehen zu.
    Ein paar Straßen weiter befand sich einer ihrer Lieblingsbuchläden. Er war alt und der Buchhändler war ein wandelndes Lexikon. Seit sie in London lebte, war sie mehrere Male dort gewesen, um nach Büchern zu stöbern. Dort würde sie nachfragen.
    Ein Glöckchen klingelte über der Tür, als Lucy den Laden betrat. Sie sah sich um. Der Buchhändler, der sie bei ihren vorherigen Besuchen bedient hatte, war nirgendwo zu sehen. Lucy ging tiefer in den Laden hinein.
    »Hallo«, rief sie.

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