Woerter durchfluten die Zeit
dort saß, lächelte ihr entgegen. Lucy legte ihren Schreibblock und ihr Stifttäschchen auf das Pult und klappte den Stuhl herunter. Erst als sie saß, zog sie ihre Jacke aus. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, froh darüber, dass ihr Nachbar sie nicht in ein Gespräch verwickelte. Die mysteriösen Begebenheiten der letzten Tage verwirrten sie. Sie hatte schlecht geschlafen und war müde und fahrig. Nervös drehte sie einen ihrer Bleistifte in der Hand.
Es war gut, dass sie heute nicht in die Bibliothek musste. Sie hatte die halbe Nacht über ihr Problem nachgegrübelt, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Dass die Bücher mit ihr sprachen, damit konnte sie leben. Sie musste es ja niemandem verraten. Dass sie verschwanden, war weitaus dramatischer. Wer wusste schon, wie viele leere Kartons und Bücher es in dem Archiv noch gab? Dazu kam, dass offensichtlich nicht nur die Texte, sondern sogar deren Existenz aus dem Gedächtnis der Menschen verschwanden. Nie wieder würde ein Kind ein Gedicht von Tennyson auswendig lernen. Sicher, die meisten würden nicht böse darüber sein. Lucy musste bei dem Gedanken lächeln. Es war ein trauriges Lächeln. Wie kam es, dass sie allein sich an Tennyson erinnerte? Lag es daran, dass sie das leere Buch gefunden hatte? Aber was half es schon, dass sie von ihm wusste? Selbst sie konnte sich an keines seiner Gedichte erinnern. So sehr sie sich das Hirn zermarterte, es fiel ihr keine einzige Zeile ein. Zu gern hätte sie Lady of Shalott aufgeschrieben. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Vielleicht sollte sie heute doch ins Archiv gehen und nach weiteren verlorenen Büchern suchen. Allerdings musste sie noch ihr Referat weiter vorbereiten. Sie hatte einen Plan aufgestellt, wann sie in der Bibliothek und wann sie am College sein konnte. Nur mit guter Organisation war es möglich, Studium und Arbeit zu bewältigen und keines von beidem zu vernachlässigen. Sie beschloss, nach der Vorlesung in die Bibliothek zu fahren. Das Referat konnte sie notfalls auch noch nachts fertigstellen. Sie musste versuchen, noch mehr leere Kartons aufzustöbern. Die Bücher würden ihr helfen. Sie brauchte einen Überblick über das Ausmaß des Verlustes und sie musste überlegen, wer oder was dafür verantwortlich war. Sie musste herausfinden, was mit den Büchern geschehen war. Unruhig spielte sie mit dem Reißverschluss ihres Schreibtäschchens. Dann zog sie einen Haargummi heraus und band ihre wild gewordenen Locken zusammen, die ihr beim Schreiben ständig ins Gesicht fielen.
Das Seminar hätte längst beginnen müssen. Weshalb ließ Professor Wyatt sie so lange warten? Der Lärm um sie herum schien zuzunehmen. Vor ihr kicherten zwei Mädchen etwas lauter. Lucy sah auf und schob ihre dunkelbraun gerahmte Brille höher, die sie nur in den Vorlesungen und Seminaren trug. Ansonsten vermied sie es, da sie damit aussah wie die sprichwörtliche Leseratte. Marie hatte sie für diese Erklärung ausgelacht. »Aber du bist eine Leseratte, Lucy. Mit oder ohne Brille«, waren ihre Worte gewesen. »Trotzdem darf man wohl ein bisschen eitel sein«, hatte Lucy sich verteidigt.
Plötzlich wurde es um sie herum stiller. Sie sah auf und entdeckte Professor Wyatt in der Tür. Sie hatte bereits so viele seiner Bücher gelesen, dass sie ihn selbst auf einer der überfüllten Londoner Straßen erkannt hätte. Lucy runzelte ihre Stirn. Der Professor war mit einem jungen Mann in ein Gespräch vertieft. Musste das sein? Nervös sah sie auf ihre Uhr. Im selben Moment klopfte Professor Wyatt seinem Gesprächspartner väterlich auf die Schulter und betrat endlich den Hörsaal. Der junge Mann folgte ihm. Mit unbewegter Miene suchte er nach einem freien Platz. Während er sich auf den Weg zum hinteren Ende des Raumes machte, zog er sein schwarzes Jackett aus. Für jeden im Saal, wurde sein schlanker und trotzdem durchtrainierter Oberkörper sichtbar, den das weiße Hemd mehr betonte als verbarg.
Lucy biss sich auf die Lippen, als sein Blick den ihren traf. Verwundert zog er seine Augenbrauen zusammen. Er erkannte sie.
Seine schmale, schlanke Gestalt steckte wieder in einer schwarzen Anzughose und einem weißen Hemd. Eigentlich eine untypische Kleidung für einen Studenten, dachte Lucy. Zielstrebig lief er an den voll besetzten Reihen vorbei. Lucy beugte sich über ihr leeres Blatt Papier. Als er viel zu nah an ihr vorbeiging, hielt sie den Atem an. Beinahe streifte seine Hand ihren Arm.
In diesem
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