Woerter durchfluten die Zeit
dich runter, dann wirst du schon sehen.«
Lucy folgte Marie quer durch die Bibliothek, bis diese vor einer hohen, alten Tür stehen blieb.
»Das Tor zur Unterwelt«, eröffnete sie Lucy und lachte nervös. Dann griff sie beherzt nach der Klinke und zog die Tür auf. Ein misstönendes Knarren durchbrach die Stille.
Vor Lucy tat sich ein dunkler Gang auf, der in die Tiefe führte. Unwillkürlich musste sie an mittelalterliche Burgen und Folterkeller denken. Glücklicherweise wurde die steinerne Treppe, wenn auch schummrig, von elektrischem Licht erhellt. Die Luft, die jetzt den Gang hinunterwehte, wirbelte winzige Staubpartikel auf, die kurz funkelten, verharrten und dann auf die abgetretenen Steinstufen niedersanken. Lucy stellte sich vor, dass die Luft sie jeden Tag ein Stück weiter nach unten wehte. Sie würden es nie wieder ans Tageslicht schaffen.
Marie trat auf die oberste Stufe und bedeutete Lucy, ihr zu folgen. Hinter den beiden fiel die Tür mit lautem Getöse ins Schloss. Lucy zuckte zusammen und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Die Treppe war steil. Um nicht zu fallen, umfasste sie mit einer Hand das Geländer. Es fühlte sich kalt und rau unter ihren Fingern an.
Am Fuß der Treppe trat sie neben Marie, die dort auf sie gewartet hatte. Ihre Augen rundeten sich vor Erstaunen bei dem Anblick, der sich ihr bot. Das Gewölbe, das sich vor ihr ausbreitete, schien kein Ende zu nehmen. Links und rechts des Aufgangs erstreckten sich rohe in das Erdreich geschlagene Wände. Auch der Boden bestand aus vom Alter fleckig gewordenen abgewetzten Steinquadern. Die hohen Bücherborde, die vor ihr aufragten, bogen sich unter ihrer Last. Neugierig trat Lucy an das vorderste Regal heran. Doch Marie griff ihren Arm und zog sie weiter. Zielsicher lief sie voran und Lucy folgte ihr notgedrungen durch das Gewirr schmaler Gassen. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde zunehmend von den Schätzen, die hier verborgen lagen, in Beschlag genommen. Sie machte sich los und blieb stehen.«Ich komme gleich nach«, rief sie Marie, die weitereilte, hinterher.
Tief sog sie den Duft ein, der das Labyrinth der Regale erfüllte. Sie liebte diesen Geruch. Beinahe war es, als würde sie die Bäume riechen, aus deren Holz die unzähligen Blätter der Bücher gefertigt waren. Sie wusste, dass hier auch deutlich ältere Bücher aufbewahrt wurden, als die, die sich vor ihr in dem Regal befanden. Das Pergament dieser jahrhundertealten Exemplare war aus Tierhäuten und Lumpen gewonnen worden. Der Einfallsreichtum der Menschen schien unerschöpflich gewesen zu sein, wenn es darum gegangen war, Erkenntnisse, Gedanken und Gefühle niederzuschreiben.
Der Duft der Farben der Bilder, mit denen die Bücher verziert waren, vermischte sich mit dem dunklen Aroma der Tiere, die ihr Leben für das Leder der Einbände gegeben hatten. Ganz schwach meinte sie den Geruch des Rußes wahrzunehmen, aus dem früher die Tinte hergestellt worden war. Wie viele Schreiber und Drucker waren ihr Leben lang damit beschäftigt gewesen, diese wertvollen Texte für die Nachwelt zu erhalten?
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Marie das Ende des Ganges erreicht hatte und nun abbog. Wenn sie sie aus den Augen verlor, dann würde sie sich hoffnungslos verirren. Die meterlangen Regale durchzogen das Gewölbe, immer wieder unterbrochen von Abzweigungen, die einen in eine neue Richtung lockten. Ein Menschenleben würde nicht ausreichen, um all diese Kostbarkeiten auch nur anzusehen, geschweige denn zu lesen, dachte Lucy.
Da sie keine andere Wahl hatte, lief sie Marie hinterher. Als sie das Ende des Ganges erreichte, blieb sie stehen und lauschte. Marie war nicht mehr zu sehen, doch ihre Schritte hallten laut durch die Stille. Lucy ahnte, dass sie diesen Lärm absichtlich veranstaltete, um sich Mut zu machen.
Es würde ihr nicht schwerfallen, ihr zu folgen. Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf eins der Regale. Die meisten Bücher standen offen auf ihrem Bord. Nur einige waren, wohl um sie zusätzlich zu schützen, in Kartons verstaut. Ein Buchrücken reihte sich an den nächsten. Sorgfältig mit Signatur versehen, warteten sie geduldig darauf, dass sich ein Leser für sie interessierte. Vorsichtig zog Lucy eines der Bücher aus dem Regal. Sie strich über den Einband und schlug es auf. Staub wirbelte zwischen verblichenen Seiten hervor. Lucys Nase begann zu kribbeln. Sie stellte das Buch zurück und holte ein Taschentuch aus ihrer Jacke. Noch einmal strich sie über
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