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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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werden. Es war nie genug Geld und Personal da, um das alles zu sichten«, beendete sie ihren Vortrag.
     Lucy nahm sich vor, jeden Raum zu erkunden. Ihr Jagdfieber war geweckt.
    Marie sah auf ihre Uhr. »Um halb eins Mittag?«, fragte sie dann.
    »Nudeln?«, stellte Lucy die Gegenfrage.
    Marie nickte. »Muss ich dich abholen?«
    Ihr Tonfall ließ Lucy kichern.
    »Ich kann nach oben kommen, wenn es dir lieber ist.«
    »Dafür werde ich dir ewig dankbar sein!«, rief Marie theatralisch und trat den Rückzug an.
    Nachdem ihre Schritte verklungen waren, wurde es still.
    Zaghaft setzte Lucy einen Fuß in Gang F. Im Grunde war es egal, wo sie mit der Suche begann. Sie sah nach oben. Die Kuppel, die sich über ihr wölbte, war mit verblichenen Ornamenten verziert. Kein Besucher der oberirdischen Stockwerke würde unter seinen Füßen etwas derart Kunstvolles vermuten. Früher mussten die Ornamente in allen Farben des Regenbogens geleuchtet haben. Jetzt war nur noch an wenigen Stellen die einstige Pracht zu erahnen. Die Atmosphäre des Saales hüllte Lucy ein und legte sich um sie. Während Marie so schnell wie möglich an die Oberfläche flüchtete, kam es Lucy vor, als sei sie jetzt erst richtig angekommen.
    Sie wagte einen Schritt in den Gang hinein. Ihre Finger glitten über die schmalen Kisten, in denen die älteren Bücher verstaut waren. Manche davon waren mit Seidenstoffen überzogen, die oft bereits durchscheinend wirkten. Andere waren kunstvoll bemalt. Die meisten waren recht zweckmäßig mit Kanten aus Metall und einem kleinen Schild an der Vorderseite versehen, auf dem der Name des Buches stand. Es war verboten, die Schachteln zu öffnen, wie unter der Führung von Mr. Barnes fast alles verboten worden war. Lucys Gesicht verzog sich zu einer missmutigen Grimasse. Sie hatte seine Anweisungen gelesen, in denen auch das Archiv erwähnt wurde. Die Kartons sollten nur geöffnet werden, wenn tatsächlich jemand eines der Bücher benötigte. So ein Blödsinn dachte Lucy. Bücher brauchten Gesellschaft. Ließ man sie zu lange allein, wurden sie schwermütig. Lucy lächelte bei dem Gedanken. Für sie besaßen Bücher eine eigene Persönlichkeit. Mal waren sie liebenswürdig und friedlich, mal störrisch und eitel. Einem Buch musste man auf behutsame Weise begegnen, damit es seine Geheimnisse preisgab. Dann ließ es den Leser in seine Welt.
    Mr. Barnes hatte keine Ahnung von Büchern. Seit er Direktor der Londoner Bibliothek war, machte ihr ihre Arbeit nur noch halb so viel Spaß.
    Lucy sah zurück. In einer Nische neben der Bürotür entdeckte sie eine Taschenlampe. Sie griff danach und probierte, ob sie funktionierte.
    Beherzt trat sie in die erste Regalreihe und machte sich auf die Suche nach Miss Olive. Immer tiefer lief sie in das Labyrinth hinein. Miss Olive war nirgends zu entdecken. Das Licht an der Decke flackerte bedenklich. Offenbar war sie an einer Stelle angelangt, an der die Lampen nicht so regelmäßig gewartet wurden wie im vorderen Bereich. Lucy umklammerte die Taschenlampe fester. Marie hatte sie zwar gewarnt, sich nicht zu tief vorzuwagen. Doch sie konnte nicht umkehren. Die dunklen Gänge übten eine Anziehungskraft auf sie aus, die schwer zu erklären war. Sie blieb stehen, unschlüssig, in welche Richtung sie sich wenden sollte.
    In diesem Moment hörte sie etwas. Es schien, als würde jemand leise wispern. Sie lauschte. Das Geräusch verstummte. Führte Miss Olive Selbstgespräche?
    »Miss Olive?«, rief sie. Sie bekam keine Antwort.
    Sie wartete eine Weile, aber alles blieb still. Sie musste sich das Wispern eingebildet haben. Langsam ging sie weiter, setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen und lauschte in die Stille.
    Da war es wieder. Lucy hörte es deutlicher als zuvor. Sie verlangsamte ihre Schritte, blieb aber nicht stehen.
    Eine Erinnerung dämmerte in ihr herauf. Etwas, das vor langer Zeit geschehen war.
     
    ***************
     
    Lucy hatte Bücher geliebt, seit sie sie auf ihrem Schoß allein hatte halten können. Stundenlang saß sie zwischen den anderen Kindern im Spielzimmer und blätterte sich durch die bunten Welten. Sie mochte nicht mit Puppen oder Autos spielen, sie wollte, dass man ihr vorlas. So wanderte sie von Schoß zu Schoß und jeder Erzieher, der eine Minute erübrigen konnte, las Lucy vor.
    Dann, an ihrem fünften Geburtstag, passierte es einfach. Sie saß in ihrem Zimmer auf ihrem Bett und auf ihren Knien ruhte ein neues Buch. Es war » Der selbstsüchtige Riese«

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