Woerter durchfluten die Zeit
Nathan schied ja wohl aus. Er stand auf der falschen Seite. Colin wollte sie in die Sache nicht mit hineinziehen. Also gab es nur eine Person, an die sie sich wenden konnte: Madame Moulin. Lucy zückte ihr Handy und wählte die Nummer der Heimleiterin. Während sie darauf wartete, dass jemand abhob, ließ sie sich auf einer Bank am Ufer der Themse nieder. Es dauerte eine Weile, bevor sich am anderen Ende jemand meldete. Als Lucy die vertraute Stimme hörte, schluchzte sie auf.
»Lucy«, erklang es aus dem Hörer. »Lucy, was ist los? Sprich mit mir.«
Lucy zog ein Taschentuch aus ihrer Jacke und putzte sich die Nase. Dann begann sie zu erzählen. Sie wusste nicht, ob Madame Moulin ihr folgen konnte. Selbst in ihren Ohren klang die Geschichte unzusammenhängend und unglaubwürdig. Wie immer lauschte Madame Moulin jedoch geduldig ihren Ausführungen. Als Lucy geendet hatte, herrschte Stille.
»Wo bist du jetzt, Lucy?«, fragte Madame Moulin.
Lucy sah sich um. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gelaufen war. »Irgendwo an der Themse«, antwortete sie.
»Du wirst dich auf dem schnellsten Weg nach Hause begeben. Verstehst du mich? Fahr mit dem Bus oder der U-Bahn. Achte darauf, dass du unter Menschen bist. Sprich weder mit Nathan noch mit seinem Großvater. Ich werde dich abholen. Gleich morgen.«
Lucy erschrak bei der Dringlichkeit in Madam Moulins Worten. »Meinen Sie, das ist notwendig? Was ist mit meiner Arbeit, meinem Studium?« Vielleicht war es voreilig gewesen, Madame Moulin anzurufen. Sie hatte ihr nur ihr Herz ausschütten wollen.
»Lucy tu einfach, was ich dir sage, und ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Colin wird dort auf dich aufpassen.«
»Colin?«, quietschte Lucy. »Sie haben es Colin erzählt?«
»Beruhige dich. Ich habe ihn nur angerufen und gefragt, wo du bist, und ihn bei dieser Gelegenheit gebeten, auf dich aufzupassen. Ich habe ihm nichts erzählt.«
Lucy verdrehte die Augen. Sehr unauffällig dachte sie. Colin würde sie ausquetschen wie eine reife Apfelsine und er würde nicht lockerlassen, bis er alles wusste. Doch es hatte keinen Zweck, Madam Moulin deswegen Vorwürfe zu machen.
»Ok, dann mache ich mich auf den Weg. Bis morgen.«
»Bis morgen und pass auf dich auf.«
Lucy drückte auf den roten Knopf ihres Handys, um das Gespräch zu beenden. Im gleichen Augenblick begann das Gerät zu klingeln und Nathans Name erschien auf dem Display. Er war der letzte Mensch, mit dem Lucy jetzt sprechen wollte. Sie drückte ihn weg und stellte das Telefon auf lautlos. Eilig machte sie sich auf den Weg zur U-Bahn-Station Temple .
Colin öffnete die Tür, als sie zu Hause ankam, und sah sie vorwurfsvoll an.
»Wusste ich doch, dass du was vor mir verheimlichst«, warf er ihr vor, noch bevor sie ihre Jacke ausgezogen hatte.
»Ich muss dir nicht alles erzählen«, antwortete sie trotzig.
»Früher haben wir uns alles erzählt.«
»Das hier ist etwas anderes, Colin. Es ist gefährlich. Ich möchte dich da nicht mit reinziehen.«
Lucy ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an.
»Was meinst du mit gefährlich?«, fragte Colin neugierig. »Was hat Madame Moulin dir erzählt?«, stellte Lucy eine Gegenfrage, um Zeit zu gewinnen.
»Ich soll auf dich aufpassen. Mehr nicht.«
»Und es ist auch besser, wenn du nichts weißt. Glaub mir.«
Der Wasserkocher summte und Lucy goss ihren Tee auf.
»Magst du auch einen?«, fragte sie versöhnlich.
Colin schüttelte den Kopf. »Es hat etwas mit Nathan de Tremaine zu tun, stimmt’s?«
»Wie kommst du darauf?«
»Lucy. Lügen war noch nie deine Stärke. Ich durchschaue dich.«
Lucy wandte sich ihm zu und sagte ernst. »Colin, ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Ich werde dir alles erklären, aber du musst mir Zeit lassen, ok? Nur ein paar Tage. Ich bin sicher, dann hat sich die ganze Sache erledigt.«
»Wie du meinst.« Colin griff nach einer Wasserflasche. »Ich bin in meinem Zimmer, wenn du reden willst.«
»Ok«, flüsterte Lucy ihm hinterher.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Zehn neue Nachrichten. Sie klickte die SMS durch.
»Wo bist du?«
»Wir müssen reden.«
»Du kannst dich nicht verstecken.«
»Du musst dich uns anschließen.«
»Mein Großvater wird dich zwingen.«
»Rede mit mir.«
»Bitte, Lucy. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.«
»Geh an das verdammte Telefon.«
»Ich komme jetzt zu dir nach Hause.«
»Ich bin gleich da.«
Lucy sprang auf. Sie konnte unmöglich mit ihm reden. Sie fühlte sich
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