Wofuer die Worte fehlen
» Es geht um die Ehre â¦Â«, sagt der General zu seinen Soldaten, die aufgereiht vor ihm stehen und ihn mit starrem Blick ansehen. Da schlagen die Soldaten ihre Hacken zusammen, legen die Hand an die Mütze und rufen wie aus einem Mund: »Zu Befehl, Herr General!«
Die Worte knallen wie der Schuss einer Pistole aus der Leinwand heraus und treffen Kristian, der in der vordersten Reihe sitzt. Er zuckt so heftig zusammen, dass seine Beine die Kontrolle über den leicht nach hinten gekippten Stuhl verlieren und er in die Reihe der hinter ihm sitzenden Mitschüler fällt.
Gejohle, Gekreische, wilde Beschimpfungen fallen über ihn her, während er ein wenig mühsam vom Boden aufsteht. Monika weint, weil der Stuhl auf ihr linkes Knie geschlagen ist.
Herr Malert, der Geschichtslehrer, drückt erbost auf die Stopptaste, um den Film über den Ersten Weltkrieg anzuhalten, denn in dem ganzen Chaos hört sowieso keiner mehr zu. Herr Malert hasst Unterbrechungen und vor allem die Schüler, die sie verursachen.
Wütend fährt er Kristian an: »Kannst du nicht
ein Mal
still sitzen? Jeden Tag kippst du mit deinem Stuhl um. Ich bin es langsam leid. Nun reià dich endlich zusammen! Die anderen schaffen es doch auch!«
Kristian schweigt. Mit kreidebleichem Gesicht, den Kopf nach unten gesenkt, richtet er seinen Stuhl auf und setzt sich wieder hin.
»Es geht um die Ehre!«, pocht es in seinem Kopf.
Neben ihm und hinter ihm glucksen und kichern seine Mitschüler und wollen sich gar nicht beruhigen.
Herr Malert wartet ungeduldig, bis wieder Stille herrscht, dann schaltet er den DVD-Player erneut an.
Während vorne die Soldaten im Gleichschritt am General vorbeimarschieren, hallen dessen Worte in Kristians Ohren nach, werden lauter und lauter: »Es geht um die Ehre! ⦠um die Ehre! ⦠um die Ehre!«
Kristian legt die Hände auf seine Ohren, aber die Worte wandern weiter durch seinen Körper, eine brennende Spur hinterlassend, so als hätte er Chilischoten gegessen.
Er legt die Hände beruhigend auf seinen Bauch. Vergeblich. Zuerst ganz zaghaft, doch dann immer stärker und mächtiger breiten sich die Schmerzen, vor denen er sich fürchtet und die ihm so vertraut sind, in seinem Bauch aus, bis sie ihn ganz ausfüllen.
»Kann ich bitte ⦠zur Toilette!«, stammelt er mit hochrotem Gesicht.
Der Lehrer seufzt genervt auf: »Nicht schon wieder! Ich muss unbedingt mit deinen Eltern darüber reden. So geht das nicht weiter! Du musst dringend zu einem Arzt!«
Kristian springt auf. »Kann ich ⦠bitte!«
Mit einer verärgerten Handbewegung entlässt ihn der Lehrer, Kristian sprintet los, stolpert über Brunos Schultasche, die mal wieder mitten im Weg liegt, fängt sich im letzten Moment und rennt weiter zur Tür.
Die Klasse grölt hinter ihm her: »Schneller! Schneller! Sonst gehtâs in die Hose!«
Kristian öffnet den Mund, um zu protestieren, als ein stechender Schmerz in seinem Magen alle Worte erstickt. Er reiÃt die Tür auf.
»Der hat âne Blase wie ein Baby!«
»Genau! Er braucht âne Pampers!«.
Die Worte seiner Mitschüler holen ihn von hinten ein und schlagen über ihm zusammen, bevor die Tür ins Schloss fällt und das laute Lachen der Klassenkameraden verschluckt.
DrauÃen auf dem Flur lehnt sich Kristian erschöpft gegen eine Wand und schlieÃt die Augen. Keuchend schnappt er nach Luft. Tränen laufen ihm über die Backen und versickern in seinem geöffneten Mund. Sie schmecken salzig, sie schmecken nach ⦠In diesem Moment explodieren die Schmerzen in Kristians Bauch, er muss würgen und schafft es gerade noch bis zur Toilettentür, bevor alles, was er an diesem Morgen gefrühstückt hat, in hohem Bogen auf den frisch gewischten Boden fliegt.
Den Rest der Stunde verbringt er damit, die Toilette notdürftig mit Toilettenpapier zu reinigen. Mit einer leeren Colaflasche, die er im Müll gefunden hat, holt er Wasser und gieÃt es auf den Boden. Er wischt und wischt und kann doch nicht verhindern, dass sich der saure Geruch nach Erbrochenem überall festsetzt.
Als es zur Pause klingelt, verlässt Kristian fluchtartig den Raum, bevor die anderen Schüler hereinkommen und ihn mit dem ekligen Geruch in Verbindung bringen können.
DrauÃen trifft er auf Schüler aus der neunten Klasse, die fröhlich lachend vom Sportplatz
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