Wofür du stirbst
für das Abendessen gekauft. Ich war wahrscheinlich so gegen, äh, Viertel nach sechs zu Hause.«
Ich lehne mich zurück und trinke mein Pint aus. Dann drücke ich meine Fingerspitzen an die Schläfen, schließe die Augen und atme tief und hörbar durch die Nase ein, als wollte ich einen übersinnlichen Prozess in Gang setzen.
»Bei deiner letzten Antwort hast du nicht ganz die Wahrheit gesagt«, sage ich schließlich. »Auch wenn die Lüge ziemlich gut verpackt war. Du warst tatsächlich um Viertel nach sechs zu Hause, also warst du vermutlich vorher noch irgendwo anders. Nämlich beim Co-op, wo du eingekauft hast, aber keine Wurst und Kartoffeln. Habe ich recht?«
Er schüttelt den Kopf, sodass ich mich einen Augenblick frage, ob ich unrecht habe oder ob er versucht, sich rauszureden.
»Eine Flasche Zinfandel und Sahnejoghurtbonbons«, sagt er leise.
»Noch ein Pint John Smith’s«, antworte ich.
Ich gehe nach Hause, bleibe mal wieder viel zu lange auf: trinke wieder zu viel Whisky, schaue wieder sinnlose Pornofilme und versuche erfolglos, mir einen runterzuholen. Zu viel Whisky, wie gesagt. Als ich vorhin von meinem Besuch zurückkam, machte ich mich zunächst an gehobenere Lektüre – in diesem Fall forensische Biologie, ein unendlich faszinierendes Thema –, wechselte dann zu anderer anregender Lektüre, wobei meine Anregung möglicherweise nicht der ursprünglichen Absicht der Autoren entsprach, und dann zu einem Medium, das lediglich die Konten irgendeines zwielichtigen osteuropäischen Pornoproduzenten aufbessern wird. Dafür zahle ich natürlich nicht.
Ich bin noch immer ziemlich zufrieden mit mir. Vaughn war so beeindruckt von meiner brillanten Vorstellung, dass er unbedingt wissen wollte, wie ich das angestellt hatte. Ich erklärte ihm die Sache mit der Körpersprache und der Intonation und wie man der betreffenden Person in die Augen schauen müsse, um den Unterschied zwischen visuellen Konstrukten und Erinnerungen herauszufinden, wie man Anzeichen von Unbehagen entdeckt und jeder noch so kleine Hinweis zu einem eindeutigen Bild beiträgt. Ich wies ihn darauf hin, dass er bei meiner letzten Frage die Augen nach oben rechts verdreht hat, was für mich ein unmissverständliches Indiz für eine visuelle Konstruktion gewesen sei, gefolgt von einem Blick nach links, der bewies, dass er auch ein paar tatsächliche Erinnerungen an das hatte, was er mir erzählte. Das verriet mir, dass er vorhatte, seine Lüge in ein paar wahre Elemente einzubetten. Dazu kam das Unbehagen, das er empfunden habe, als ich kurz davorgestanden hatte, ihm meine letzte Frage zu stellen: die Anspannung in seinen Schultern, dass er auf seinem Stuhl etwas von mir weggerutscht war und seine veränderte Art zu atmen hatten mir gesagt, dass er ganz offensichtlich die ersten beiden Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hatte und jetzt eine Lüge bringen musste. Als er mir von seinem Einkauf erzählt hatte, der Wurst und den – was war es noch? – Kartoffeln, genau, war er mit seiner Zunge rasch über die Lippen gefahren und hatte sich dann mit den Fingern an den Mund gefasst. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre das eine durchaus natürliche Geste gewesen, etwa weil etwas juckte, man schniefte oder Krümel beseitigen wollte. In diesem Fall bestätigte es seine Lüge.
Das alles sagte ich ihm und gab ihm natürlich ein paar Tipps, worauf er das nächste Mal achten sollte, wenn er mit Audrey unangenehme Dinge besprach. Ich bemühe mich sehr, nicht an Audrey zu denken, denn sobald ich das tue, stelle ich sie mir nackt vor, und dann dauert es nicht mehr lange, und ich stelle mir auch Vaughn nackt vor und wie die beiden in der Missionarsstellung wild miteinander vögeln. Und dann sehe ich unwillkürlich Vaughn vor mir, der sich anspannt und auf eine Art und Weise aufschreit, wie ich ihn noch nie im Büro oder im Pub habe schreien hören.
Nach so einer geistigen Entgleisung fühle ich mich meistens schuldig, muss um Viertel vor drei Uhr morgens aufstehen und noch einmal duschen.
Einmal hat Martha mich nach meinen Eltern gefragt. Ich muss damals in Gesprächslaune gewesen sein, oder vielleicht war es auch eine Situation, in der es unhöflich gewirkt hätte, keine Antwort zu geben. Also erzählte ich ihr, dass mein Vater gestorben sei, als ich elf war.
»Armer Junge«, sagte sie. Zunächst wollte ich ihr das ein wenig übel nehmen, doch dann wurde mir klar, dass sie den kleinen Jungen meinte, der ich damals gewesen war. »Das muss eine
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