Wofür es sich zu leben lohnt
erkenntnistheoretische These zu begreifen, sondern vielmehr als eine
ethische
. [47]
Mit diesem Akzent lässt sich die These von der Materialität dann wie folgt formulieren:
»Diese Welt ist die einzige und beste, die wir haben.«
So gelesen und formuliert, zeigt die These von der Materialität deutlich ihre Stoßrichtung an – sie zeigt, auf welche praktischen Konsequenzen sie abzielt. Während bei ihrer erkenntnistheoretischen Fassung kaum klar ist, welchen Unterschied im Handeln es jemals ausmachen soll, wenn es sich so verhält, wie die These behauptet, wird das bei ihrer ethischen Fassung sofort deutlich: Leute, die davon ausgehen, dass das die einzige Welt ist, die sie haben, werden sich in dieser Welt anders verhalten als zum Beispiel solche, die auf eine andere, bessere Welt spekulieren.
Der Satz »Diese Welt ist die beste, die wir haben« bedeutet natürlich nicht, dass diese Welt in Ordnung wäre. Er sagt nicht, wie Leibniz behauptete, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Er sagt nur, dass wir keine andere Welt haben, und dass folglich, wenn es überhaupt ein gutes Leben gibt, dieses gute Leben sich hier und jetzt abspielen muss. Die Frage aus dem Song Wolf Biermanns, »Gibt es ein Leben vor dem Tod?« – das ist die Frage des Materialismus.
Die Komödie vertritt diese Position, indem sie von der Annahme ausgeht, dass alles, was großartig ist, auch von dieser Welt ist. Darum herrscht in der Komödie das Paradigma des Gelingens: [48] die unwahrscheinlichsten Vorhaben und gewagtesten Hochstapeleien führen zum Erfolg; die Liebespaare – oder auch die Dreiecksbeziehungen und andere polygone Verhältnisse, welche die Komödie mindestens ebenso großartig findet – kommen am Ende zusammen; es gibt ein
Happy End
, wie merkwürdig oder fremd das gegenüber den sogenannten guten Sitten auch erscheinen mag; nichts – oder jedenfalls kein Gebot guter Sitten – kann dieses
Happy End
verhindern. (Denn schließlich, wie Billy Wilders Held aus »Some Like It Hot« am Ende sagt: »Nobody is perfect.«)
In der Tragödie dagegen herrscht bekanntlich das Prinzip des Scheiterns: Ihre vordergründige Traurigkeit entwickelt die Tragödie aus der Annahme, dass nichts, was großartig ist, von dieser Welt sein kann und dass alles wahrhaft Großartige eben darum in dieser Welt scheitern muss. Damit insinuiert die Tragödie klarerweise auch den Umkehrschluss, nämlich, dass alles, was scheitert, großartig wäre – und das macht ihre Traurigkeit zu einer nur vordergründigen: Denn immerhin kann man sich dann einreden, dass man beim Zusehen, wie etwas schiefging, etwas Großartiges gesehen hätte. Das kann erklären, weshalb Leute sich freiwillig Tragödien ansehen – der damit verbundene Lustgewinn wäre also begreiflich gemacht, und das libido-ökonomische Paradoxon, auf das Sigmund Freud in diesem Zusammenhang hingewiesen hat, gelöst (s. Freud [ 1920 g]: 227 ).
Wenn die Komödie vom Gelingen des Großartigen handelt, während die Tragödie dessen notwendiges Scheitern postuliert, so zeigt sich daran ein religionsgeschichtlicher Hintergrund: Der »Geist der Komödie« entspricht einer heidnischen Weltauffassung. Denn es ist eine heidnische Auffassung der Welt, die vom Gelingen des Großartigen ausgeht. Dort ist es möglich, dass das Großartigste, das Göttliche bzw. Heilige, sichtbar wird und sich nicht nur höchstens einmal, sondern immer wieder und an vielen Orten zeigt – wobei es sich übrigens auch lachend zeigen kann: Denn bei den Heiden haben die Götter Humor. [49] In der heidnischen Weltauffassung ist es folglich auch problemlos denkbar, dass dieses Göttliche dargestellt werden kann – Olympiasieger oder Hetären konnten darum einem Praxiteles als geeignete Vorbilder für seine Statuen des Apollon oder der Aphrodite Modell stehen. Das Göttliche kann eben deshalb erscheinen, weil Erscheinen in dieser Welt nicht als Makel, Abstrich oder Verlust aufgefasst wird. Denn diese Welt wird in der heidnischen Auffassung eben selbst als großartig begriffen. Die heidnische Grundstimmung angesichts dieser Welt ist deshalb, wie Nietzsche gezeigt hat, die einer exzessiven Dankbarkeit:
»Das, was an der Religiosität der alte Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt: – es ist eine sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben steht! – Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt, überwuchert die
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