Wofür es sich zu leben lohnt
Furcht auch in der Religion; und das Christentum bereitete sich vor. –« (Nietzsche [ 1886 ]: 59 )
Es ist die heidnische Auffassung der Welt, die lehrt, diese Welt als großartig zu begreifen und sie dankbar als das Beste zu schätzen, was wir haben. Die heidnische Weltauffassung ist darum der Welt zugewandt oder »physisch«; ihre Haltung ist diejenige, aus der der philosophische Materialismus gelernt hat.
Furcht oder Abscheu angesichts der »Schlechtigkeit der Welt« hingegen, das Gefühl, in einem »Jammertal« zu leben, auf eine bessere oder wahrere ideale Welt hinter dieser erscheinenden Welt zu hoffen – dies sind die Kennzeichen einer weltabgewandten, metaphysischen Auffassung; charakteristisch für Religionen wie das Christentum, die davon ausgehen, dass die erscheinende Welt mangelhaft sei und dass das Göttliche darum nicht (bzw. nur in Ausnahmefällen) erscheinen und auch in seiner Göttlichkeit nicht adäquat dargestellt werden könne. Wenn diese Welt so schlecht ist, dann kann das wahrhaft Große oder Gute in dieser Welt nur scheitern – und konsequenterweise ist der Gott einer solchen Weltauffassung dann keine gefeierte Diva, kein Olympiasieger, sondern ein tragischer Verlierer, den man selten lachen sieht, und er hat seinen großen Auftritt nicht in einer Siegerehrung, sondern in der Todesstrafe.
1 . 1 . Sadness for Fighters?
Interessant erscheint vor diesem Hintergrund die Frage, welche der beiden Weltanschauungen – ungeachtet dessen, welche wahrer sein mag – geeigneter erscheint, ihre Vertreter zur Militanz zu befähigen. [50] Wer ist wohl eher bereit, engagiert zu kämpfen: die Materialisten der Komödie oder die Tragiker? Die Physiker oder die Metaphysiker? Die Bejahenden des Lebens oder die Verneiner der Welt? – In der Antike sollen die Heiden – so behauptet es jedenfalls der frühchristliche Schriftsteller Tertullian – darüber erstaunt gewesen sein, mit welcher mutigen Todesverachtung die Christen an ihrer religiösen Überzeugung festgehalten haben. Nur wer diese Welt und dieses Leben nicht für alles nimmt, könne unerschrocken dem Leid und dem Tod begegnen – wie eben zum Beispiel die Christen, »ein zum Sterben stets bereiter Menschenschlag« (Tertullian 2008 : 5 ). Dieselbe Überlegung taucht in der Philosophie der Gegenwart wieder auf – zum Beispiel wenn Slavoj Žižek, um den postmodernen apolitischen Zynismus zu bekämpfen, das Christentum für den Materialismus in Anspruch nimmt und meint, nur dieses könne zu einer wahrhaft asketischen, militanten Haltung anleiten (s. Žižek 2004 ). Und haben nicht erst vor kurzem die Verfechter des islamischen Fundamentalismus mit demselben Argument der westlichen Kultur höhnisch deren angebliche Dekadenz und Wehrlosigkeit vorgeworfen (»Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod«)?
Allerdings sind die Metaphysiker nicht die Einzigen, die der Militanz und sogar der Todesverachtung im Kampf fähig sind. Es ist eine irrige, idealistische Annahme, dass Menschen, die das Leben lieben, eben deshalb nicht imstande wären, es aufs Spiel zu setzen. [51] Man muss nicht etwas jenseits des Lebens im Blick haben, um dieses Leben zu riskieren. Es kann vielmehr schon genügen, dass dieses Leben, das doch nach materialistischer Auffassung das beste ist, was wir haben, in seiner aktuellen Form als unerträglich erscheint. In diesem Sinn heißt es in dem Gedicht »Resolution der Kommunarden« von Bertolt Brecht:
»In Erwägung daß ihr uns dann eben
Mit Gewehren und Kanonen droht
Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
Mehr zu fürchten als den Tod.« (Brecht 1984 : 653 )
Darin besteht der massivste und verlässlichste Antrieb einer materialistischen Kampfbereitschaft: in der Furcht vor schlechtem Leben in dieser besten Welt, die wir haben. Diese Furcht lässt selbst die Todesfurcht klein werden. Wenn also die Materialisten den Metaphysikern in der Fähigkeit zur Todesverachtung nicht nachstehen, so haben sie ihnen andererseits vielleicht noch etwas voraus – nämlich ein Bild dessen, was sie erreichen wollen. Dieses Bild hingegen scheint den tragisch gesinnten Metaphysikern zu fehlen: Sie können kaum angeben, was für sie eigentlich ein Erfolg wäre. Sie haben keine Idee davon, wie die Welt nach ihrem Sieg aussehen sollte und wie sie darin leben wollen. In dem regelmäßigen Scheitern ihrer Hoffnungen verrät sich darum eine Hoffnung auf das Scheitern. [52] Ihre Todesverachtung ist in Wahrheit eine Verachtung des
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