Wofür es sich zu leben lohnt
ihrer Beobachter. Das heißt, sie spielen ihnen immer genau jene Primitivität vor, von der sie meinen, dass diese sie sehen wollen. [42] In dieser mehr oder verzweifelten Reaktion auf eine vermutete Erwartung steckt, wie Stephen Greenblatt gezeigt hat, sowohl eine Unterwerfungsgeste gegenüber dem anderen als auch der Protest gegen diese Unterwerfung (s. Greenblatt 1995 : 36 ). Wenn amerikanische Indianer im 19 . Jahrhundert ihren interessierten weißen Beobachtern, von denen sie besiegt worden sind, unappetitliche »skatologische« Riten vorführen, dann akzeptieren sie ihre Niederlage und protestieren zugleich dagegen. Kaum anders ist das Verhalten der Verlierer von heute in den Talkshows und Reality-Containern. Die Angehörigen der sogenannten Unterschicht machen sich provokant jenes primitive, ungehobelte Verhalten zu eigen, das ihnen als kollektive Erwartung derjenigen gegenübertritt, die dieses loswerden und zugleich festhalten wollen, indem sie sich seiner Präsenz beim Anderen versichern. Auch die popkulturellen Diven und Stars, deren Bezeichnungen an das Göttliche bzw. Heilige erinnern, haben die – traditionell dem Göttlichen und Heiligen vorbehaltene – Aufgabe, die Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen ihrer jeweiligen Gesellschaft zu repräsentieren. Je realitätsferner und verzweifelter aber die Hoffnungen einer Gesellschaft auf Sexualität sind, und je größer ihre Furcht vor ihr, desto greller müssen die Popikonen diese Sexualität verkörpern. Sie führen ihnen damit, ähnlich wie die Heldinnen der klassischen Tragödie, zugleich die Unerreichbarkeit ihres Ideals und dessen Verderblichkeit vor Augen – sowie auch den Vorteil, der darin liegt, kein Held, sondern bloß Zuschauer zu sein. [43]
3 . Die Bilder des Sex nach dessen Umverteilung
Realitätsfern sind die sexuellen Hoffnungen großer Teile der Gesellschaft, in der wir leben, weil in diesem Bereich, ähnlich wie in vielen anderen (wie z.B. der Bildung), eine massive Umverteilung stattgefunden hat – nicht nur auf der Ebene der realen Praktiken, sondern vor allem in Bezug auf deren »Deckung« durch kulturelle Vorbilder. Während es in den 60 er und 70 er Jahren noch breiten Teilen der Bevölkerung möglich war, sich im erotischen Verhalten an Loren, Mastroianni, Dunaway, McQueen, Schneider, Piccoli und anderen wenigstens perspektivisch zu orientieren, bleibt den Bewohnerinnen und Bewohnern der postmodernen, postsexuellen Welt diesbezüglich wenig übrig. Die Sexualität hat sich aus der breiten Mitte der Gesellschaft verflüchtigt; nurmehr an ihren Extremen ist sie jetzt auffindbar: einerseits an der Reichtumsspitze der Gesellschaft, etwa in der »Flavio-Briatore-Klasse«, und andererseits am immer breiter werdenden unteren Rand. Die sogenannte »Unterschicht« hat begonnen, gleichsam als ihr Klassenbewusstsein, eine neue, internet-gestützte Expertise für das Pornographische zu leben. Dem bekannten Artikel »Voll Porno!« im »Stern« zufolge halten Vierzehnjährige nicht mehr Händchen, sondern treffen sich lieber am Wochenende zum Gangbang (s. Wüllenweber 2007 ). Reifere Bildungsferne bewerben sich für Reality-Shows. Dem zuschauenden Rest der Gesellschaft dient dies zur Unterhaltung; zugleich aber auch als gefährliche Drohung: Wenn ihr euch nicht zusammennehmt, dann sitzt ihr morgen schon selber im Container.
Hier lässt sich erkennen, weshalb die meisten Angehörigen der postmodernen Kultur sich ständig, wie es neudeutsch heißt, als »oversexed and underfucked« empfinden. Das Grelle hat die Funktion, vernünftige Beleuchtungen, in denen man das eine oder andere erkennen, in Bezug auf gesellschaftliche Standards diskutieren sowie für sich gewinnen und nutzbar machen könnte, zu verhindern. Dadurch fungiert der Porno-Pop als Stütze für die erotische Verelendung in der postmodernen Kultur. Ebenso hat die Vorführung prononcierter, in die Extreme getriebener Sexualität wie in den Romanen von Cathérine Millet oder Michel Houellebecq oder in Filmen wie Patrice Chereaus »Intimacy« auf bildungsnäherer Ebene die Funktion, die Sehnsucht nach diesem der Mehrheit entzogenen gesellschaftlichen Beutegut zu nähren. Aber immer in genau jener Form, die geeignet ist, die Sexualität zu diffamieren – ein Bild von ihr zu zeichnen, das die Sehnenden dazu veranlasst, von sich aus erschrocken von ihr Abstand zu nehmen.
4 . Anhang: Die Kinder mit dem Elternschnaps.
Wir und die Genüsse
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