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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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1
    1. JUNI
    Über das Leben der Menschen wusste ich wenig. Dennoch war ich überzeugt,
dass auf dem abgelegenen Weg auf der Ile d’Yeu an diesem Morgen etwas geschah, was sich von
dem alltäglichen Einerlei unterschied.
    Maniola jurtina, meines Zeichens Schmetterling aus der Familie der Nymphalidae. Sie haben
meine braunen Flügel mit den fahlgelben und orangefarbenen Flecken sicherlich schon einmal auf
Feld- und Waldwegen gesehen. Von der ganzen weiten Welt kannte ich an jenem Junimorgen nur die
Steine der kleinen Mauer dort hinten neben dem alten Citroën-Kastenwagen. Erst zwei Tage zuvor
hatte ich das Licht der Welt erblickt. Sehen Sie dieses von Spinnweben umhüllte Häufchen Staub
neben dem Efeu? Das ist meine Puppe, die trocknet. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch
nicht bis zu dem Haus hinten im Garten vorgewagt, in dem es nach Gewürzen und Kräutern
roch. Meine Erkundungsflüge beschränkten sich zunächst auf die Maulbeerbäume in der Nähe desGartentores. Apeliotes, der Wind aus Südost, flüsterte mir zu, dass der kleine
Weg hinter dem verrosteten Briefkasten zum Strand führte. Als ich diese eigenartigen
Schwingungen während meines Fluges spürte, dachte ich zuerst, das käme vom Meer her. Und dann
sah ich sie.
    Eine Frau auf einem Fahrrad näherte sich dem Haus. Sie war um die siebzig, sehr schlank und
zierlich. Ihr Fahrrad quietschte ein wenig, aber nichts erklärte, was sie umschwebte: Musik,
nein, ein rhythmischer Klang, der immer lauter wurde, je stärker ich vom Fahrtwind erfasst
wurde. Ich weiß nicht, welch gefährliches Verlangen mich dazu trieb, um diese Frau
herumzuflattern. Vielleicht der Duft der Orangenblüte an ihrer Strickjacke, der intensive
Geruch des Haarsprays, das ihrem weißen Haar Halt verlieh, oder der verblichene Glanz eines
kleinen Smaragdes an ihrem fleckigen Hals. Doch nun begriff ich, was diesen ganz gewöhnlichen
Morgen erschütterte. Es war ihr Herzklopfen.
    Ihr Herz klopfte stark und schnell, und das passte gar nicht zu dieser ruhigen Straße. Die
Augen der Frau waren auf das weiße Haus gerichtet, als sie anhielt und das Fahrrad vorsichtig
gegen die alte Mauer lehnte. Sie hob den Kopf und stieß das kleine, blau gestrichene Gartentor
auf. Zwischen Töpfen mit blühenden Blumen schlängelte sich ein mit Steinplatten ausgelegter
Weg hindurch. Je mehr sie sich dem Haus näherte, umso lauter wurde das Klappern von Töpfen,
und umso ungestümer schlug ihr Herz. Ich umflatterte sie wie wild. Hinter den Sträuchern
entdeckte sie den Hauseingang. Die Tür stand weit offen.
    Ein alter Stuhl, auf dem Kindergummistiefel lagen,war in die Tür gestellt
worden, damit sie nicht zufiel; im Haus zog es offenbar. Der Boden glänzte und duftete nach
Kiefernnadeln. Die Frau klopfte an die Tür, doch das Klopfen ging im Klappern der Kupfertöpfe
unter. Sie blinzelte – ihre Wimpern hatten die Farbe des Rotklee-Bläulings –, holte kurz Atem
und sagte dann: »Hallo? Verzeihung, ist da jemand?«
    Schließlich verstummte das Klappern der Töpfe. Schritte auf den Bodenplatten hallten durch
die Stille, und die Brust der hübschen jungen Frau schien plötzlich vor Wut anzuschwellen. Ich
flog blitzschnell davon und versteckte mich im Schatten eines blauen Fensterladens. Warum nur
war die Frau mit dem Fahrrad an diesen Ort gekommen, der ihrem müden Herzen großen Schaden
zufügen konnte?

2
    7. MAI
    Es war Zephyr, der Westwind, der mir von ihr erzählte. Er konnte
sich noch gut an sie erinnern. Er hatte sie vor einem Monat an einem wolkenlosen Abend in
Erquy in der Bretagne gesehen.
    22.02 UHR
    Er war durch den Briefkasten ins Haus eingedrungen, durch den
Schlitz unter der mit einem schmiedeeisernen Gitter gesicherten, dicken Glasscheibe in der
Eingangstür, die auf die Rue de Ker Huitel wies. Was trieb Zephyr, der Schlingel, in diesem
Haus, wo es nichts gab, womit er sein Spiel treiben konnte? Keinen Staub, keine Unordnung und
nichts, wodurch er einen Luftzug hätte erzeugen können. Aber Zephyr, der sich mit wenig
zufriedengab, hatte von einem kleinen Ereignis Wind bekommen, das hier heute Abend stattfinden
sollte. Jetzt wartete er ungeduldig auf das, was geschehen würde. Zephyr
glitt über die makellosen Terrakottaplatten hinweg, ärgerte die Grünpflanzen in den
Kupferübertöpfen, zupfte an den Spitzendeckchen und strich um die alten Nippesfiguren
herum. Er trug das Echo des klirrenden Bestecks und des Porzellans durch den Flur und wehte
die Gespräche der Gäste in die Stille der

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