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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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Erotomanin und schließlich die bauernschlaue, grausame sizilianische Urgroßmutter. Gelegentlich treffen sie in ihren Unterhaltungen an bestimmten Punkten zusammen, aber aus gänzlich verschiedenen Gründen – aus Motiven, die einander völlig äußerlich sind. Man könnte dann meinen, sie kommunizierten miteinander, dabei meint jede nur das, was ihrer einseitigen Ausrichtung entspricht. Dadurch entsteht die komische Wirkung: Je eindimensionaler sie sind, desto komischer erscheint es, wenn in ihrem Zusammentreffen so etwas wie Sinn entsteht; wenn es so aussieht, als hätten sie sich jetzt verstanden oder über dasselbe gesprochen.
    Die Komödie erweist also die scheinbar sinnvollen Begegnungen als zufällige, absichts- und verständnislose. Hinter den imponierenden Sinn-Effekten lässt sie die einfachen Automatismen erkennen. Damit erläutert die Komödie die entscheidende Bedeutung der materialistischen Lehre von den Atomen:
Der Eindruck von Sinn geht aus dem Unsinn hervor.
Darin steckt ein kritisches Moment, denn der Eindruck von Sinn gehört zu einer bestimmten Illusion. Sinn ist etwas anderes als Bedeutung. Der Bedeutung haftet keine Illusion an: Denn Bedeutungen erkennen wir, weil wir gelernt haben, Zeichen zu lesen. Sinn aber entsteht dort, wo wir andere so behandeln, als wären sie zu nichts anderem auf der Welt als dazu, uns zu verstehen – und zwar so, wie wir es meinen. Sobald Sinn entsteht, fühlen wir uns im Mittelpunkt der Welt. Genau diese Illusion hatte Epikur mit seiner These im Blick; ihr stellte er das Bild der absichtslos kollidierenden Atome entgegen. Dadurch erhält die These vom Atomismus ihre ethische Bedeutung. Auch sie soll – wie alle philosophischen Thesen nach dem Konzept Epikurs – einen Affekt heilen; sie soll von allen unlustvollen Erregungen befreien, die aus der Illusion von Sinn hervorgehen. [61] Louis Althusser hat diese Theorie in seinem posthum veröffentlichten Spätwerk als »matérialisme de la rencontre«, Materialismus des Aufeinandertreffens, bezeichnet (s. Althusser [ 1982 ]). [62]
    Dem Materialismus des Aufeinandertreffens zu folgen bedeutet,
sich nicht für das Zentrum der Welt zu halten
: weder für das Ziel – das, worauf alle Bestrebungen der Umwelt gerichtet sind; noch für den Ursprung – das, wovon die Wirkungen in der Welt ausgehen. Wie Spinoza feststellte (s. Spinoza 1976 : 41 ) gibt es also weder Lenker, die alles zu unserem Besten eingerichtet haben und auf deren weise vorgeplanten Bahnen wir uns bewegten; noch sind wir die selbstbestimmten Ausgangspunkte unseres Handelns. Vielmehr sind wir in unserem Handeln viel öfter absichtslos herumgeschubst, als wir uns gerne eingestehen, [63] und wir halten uns nur für frei, weil wir die wahren Ursachen – sozusagen die uns bestimmenden Atom-Kollisionen – unserer Aktivitäten oft nicht kennen. So kommt es, dass wir gerade dort, wo wir uns am freiesten wähnen, es am wenigsten sind. Die Gesamtheit dieser Prinzipien und Folgerungen hat Louis Althusser in einer Formel der Ernüchterung zusammengefasst, die er als »die einzige Definition des Materialismus« bezeichnete:
»sich keine Geschichten erzählen«
(»ne pas se raconter d’histoire«, Althusser 1994 : 247 ).
    Die Komödie setzt diese einfache, ernüchternde Position des Materialismus voraus: Sie anerkennt die grundlegende
Dezentrierung [64]
der Individuen, die sich mit Notwendigkeit immer für Subjekte, für Zentren, halten.
»Ihr seid nicht so frei, wie ihr euch gerne einbildet«
 – diesen höhnischen Zuruf versetzt die Komödie fortwährend ihren Zuschauern, indem sie ihnen ihre Figuren als Exempel vor Augen führt. Hier verläuft die entscheidende Demarkationslinie, die den Materialismus der Komödie von den idealistischen Philosophien trennt. Denn Letztere charakterisieren sich dadurch, dass sie bekanntlich – vertreten von Immanuel Kant bis Judith Butler – den Menschen immer die Geschichte erzählen,
sie seien in Wahrheit freier, als ihnen bewusst ist
. Sie könnten mehr verändern, als sie selbst glauben oder wahrhaben wollen. Der Idealismus behauptet also die grundsätzliche
Zentriertheit
der Menschen in der Welt: Die Welt ist vom Menschen und für den Menschen gemacht. Wenn die Menschen dann einmal faktisch unfrei sind, so kann der Grund dafür folglich nur in einer Schuld, und diese Schuld nur bei ihnen selbst liegen – es ist nichts als »selbstverschuldete Unmündigkeit«. Wer also den Menschen erzählt, dass sie freier sind,

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