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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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den meisten europäischen Metropolen derzeit ein ähnliches Bild: Horden von Jugendlichen und Nichtmehrjugendlichen aus der Peripherie fallen ins Zentrum ein und verblüffen die dort Ansässigen durch die Lautstärke ihres Auftretens, die Intensität ihres – oft teilweise auch schon bei der Anreise absolvierten – Alkoholkonsums und die Dämlichkeit ihrer Ziele. Besonders beliebte Hauptstädte erhalten solchen scharenweisen, karnevalesken Besuch via Billigflug auch aus dem entfernteren Ausland, so dass Philip Meinhold in der »taz« kürzlich mutmaßte, in Berlin verübten die Spanier derzeit ihre Rache für das, was Deutsche Vergnüger seit langem auf Mallorca angerichtet haben (Meinhold 2010 ). Besitzer von Ferienwohnungen wundern sich, dass ihre temporären Mieter dort offenbar Fetischpartys gefeiert haben müssen, nicht ohne bei der Abreise alle Utensilien in die Mülltonne zu werfen, um sozusagen »rein« in ihr normales Leben zurückzufahren. Das legt Fragen wie die folgenden nahe: Was hat es mit solchem Verhalten auf sich? Führen wir alle Doppelleben? [44]
    Nun sind Situationen wie Urlaube oder Feste schon traditionell genau die Gelegenheiten, in denen nicht nur getan werden darf, was man nicht immer gut findet, sondern wo es sogar getan werden muss. Das Feiern unterliegt beim Fest ebenso strengen Geboten wie das Nichtfeiern im profanen Alltag. Darüber hinaus ist es wichtig, festzuhalten, dass das Naserümpfen der Urbanen über die Primitivität der Provinzler auf einer perspektivischen Illusion beruht: Es tut so, als ob der Blick der Beobachtenden nichts mit dem zu tun hätte, was sie da zu sehen bekommen. Aber klarerweise würde ohne diesen Blick das Beobachtete nicht existieren; es ist ein Spektakel, das für ihn inszeniert wird. Die feiernden Besucher benehmen sich betont schamlos – eben
weil sie sich schämen
.
    Diese zur Schau gestellte, prononcierte Selbsterniedrigung derjenigen, die sich selbst für niedriger halten als die Leute, von denen sie sich beobachtet fühlen, gehört in den weiteren Kreis der zuvor erwähnten, von Greenblatt untersuchten »schmutzigen Riten«. Die feiernden Gruppen aus der Peripherie dürften sich den Ansässigen gegenüber unterlegen oder zumindest fremd fühlen. Diesen gefühlten Mangel versuchen sie dadurch zu überkompensieren, dass sie das Geschehen, und sei es ein wenig anmutendes, in die eigene Hand nehmen und wenigstens als Gestalter ihrer unentrinnbaren Rolle, Beobachtete zu sein, auftreten.
    Ebenso dürften die schmutzigen, rassistischen oder sexistischen Worte, die von heutigen Hip-Hoppern – zum Erstaunen ihrer liberalen Beobachterinnen und Beobachter (s. Radisch 2007 ) – gebraucht werden, in erster Linie solche protestgeladenen Schambotschaften sein. Sie signalisieren: »Wenn ihr mich schon, wie ich vermute, für einen Primitiven haltet, dann spiele ich euch jetzt mal einen richtigen Primitiven vor.« Dies geschieht ganz in dem Sinn, den die Figuren des »Ali G« oder des »Borat« des Entertainers Sasha Baron Cohen, wenngleich wohl mit klarerem Bewusstsein, ihren staunenden Gesprächspartnern vorleben. Und dass Jugendliche sich mit Vorliebe Hip-Hop-Texte vorsingen lassen, in denen das Wort »motherfucker« vorkommt, hat – ganz wie die Monster an den Außenfassaden der gotischen Kathedralen – auch etwas »Apotropäisches« an sich; es ist ein Stück Abwehrzauber: Darin manifestiert sich der verständliche Wunsch, am Ort des Konzerts einen garantiert elternfreien Raum vorzufinden. In all diesen Situationen finden wir also eine durch den Anlass und durch die Beobachtung bedingte Verhaltensweise, die ohne diese Faktoren nicht existieren könnte. Andererseits ist diese Verhaltensweise heute vielleicht die allgemeine Regel. Nahezu jeder ist heute der lärmende Partytourist für irgendjemand anderen.
    Insofern scheint sich beim Feiern etwas geändert zu haben. Wir alle benehmen uns wie Kinder, die sich über die Spirituosen ihrer ausgegangenen Eltern hermachen und sich dabei bis zur Vergiftung betrinken. Diese Maßlosigkeit ist die Kehrseite unserer vorherrschenden Abstinenz. Nach beiden Seiten hin beweisen wir, daß wir kein vernünftiges Verhältnis zum Genuss herstellen können. Und was wir führen, ist kein Doppelleben, sondern vielmehr ein extrem homogenisiertes, humorloses.
    Viele unserer heutigen Exzesse geschehen offenbar aus Furcht, die Anderen könnten glauben, wir hätten keinen Spaß, wenn sie ihn nicht sehen. Um Zugang zu unseren

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