Im Netz der Angst
1
Anrufe um zwei Uhr morgens bedeuteten nie etwas Gutes. Deswegen erwachte Aimee Gannon auch mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust, als sie Montagnacht von ihrem über den Nachttisch tanzenden Handy geweckt wurde.
Ein Albtraum hatte sie fest im Griff gehabt, und obwohl sie dagegen angekämpft hatte, war es ihr nicht gelungen, sich einen Weg zurück in die Wirklichkeit zu bahnen. Fast war sie erleichtert, von dem Anruf aus diesem Schwebezustand befreit zu werden, obwohl sie sich wie gerädert fühlte. Während sie sich aufrichtete, tastete sie nach dem Telefon und klappte es auf. »Dr. Gannon.«
»Dr. Gannon, hier spricht Detective Josh Wolf vom Sacramento Police Department.«
Die Polizei? »Was kann ich für Sie tun, Detective?« Aimee schwang die Beine aus dem Bett, bis sie mit den Füßen auf das kühle Holz des Fußbodens traf. Weshalb um alles in der Welt rief ein Polizist sie mitten in der Nacht an? Sie streckte sich, versuchte die verspannten Nackenmuskeln zu lockern und bereitete sich darauf vor, zu erfahren, wer in Schwierigkeiten steckte und weshalb.
»Wir haben eine ihrer Patientinnen in Gewahrsam und ich hatte gehofft, dass Sie uns weiterhelfen können. Die junge Frau verhält sich momentan nicht gerade sehr … kooperativ«, sagte der Mann, dessen tiefe Stimme immer wieder wegbrach, sobald die Verbindung schwächer wurde.
Nicht sehr kooperativ und in Polizeigewahrsam – das klang nach großen Schwierigkeiten. Sprach er etwa von Janelle? Sie war eine Trinkerin mit einer Menge Wut im Bauch, und Auseinandersetzungen zwischen betrunkenen Streithähnen in einer Bar endeten durchaus öfter im Gefängnis. Oder ging es um Gary, ihren Sexabhängigen? War er etwa bei einer Razzia im Rotlichtmilieu aufgegriffen worden? Halt – nein, der Polizist hatte Patient in gesagt. »Von wem sprechen Sie, Detective?« Aimee rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Das Mädchen heißt Taylor Dawkin«, antwortete Wolf.
Aimee schoss in die Höhe. »Taylor? In Gewahrsam?« Verdammt! Wenn Taylor auch jede Menge Probleme mit sich herumschleppte, war Aimee doch davon ausgegangen, dass sie in letzter Zeit Fortschritte gemacht hatten. Große Fortschritte.
»Können Sie vorbeikommen?«, fragte Wolf, ohne auf ihre Äußerung einzugehen. »Sie ist im Mercy General untergebracht.«
»Im Krankenhaus? Weshalb – ist sie verletzt?« Aimee klemmte das Handy zwischen Schulter und Wange und zerrte eine Jeans aus der Kommode.
»Das würde ich Ihnen lieber persönlich erklären«, sagte Wolf mit einem seltsamen Unterton, den sie wegen der schwachen Verbindung schlecht deuten konnte.
Verflucht! Von ihm würde sie nichts weiter erfahren. »Sind ihre Eltern schon da? Kann ich mit ihnen sprechen?« Taylor war erst siebzehn. Ihr Verhältnis zu Orrin und Stacey war so schlimm, wie es bei einem Mädchen im Teenageralter nur sein konnte. Trotzdem waren sie bestimmt bei ihr im Krankenhaus.
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. »Das geht im Moment nicht. Ich schicke einen Einsatzwagen, der Sie abholt. In zehn Minuten könnte jemand bei Ihnen sein.«
Aimee erstarrte. Nicht möglich – was zum Teufel sollte das nun wieder bedeuten? »Hat Taylor irgendetwas angestellt? Ist sie festgenommen worden?«
Nach einer erneuten kurzen Pause sagte er: »Das würde ich Ihnen wirklich lieber persönlich erklären.« Wolfs Ungeduld war trotz der schlechten Verbindung deutlich herauszuhören. »Soll ich einen Beamten losschicken, der Sie abholt?«
»Ich kann selbst fahren, Detective«, erwiderte Aimee knapp, während sie ein Trägertop aus der obersten Schublade fischte. Geduld gehörte auch nicht gerade zu ihren Stärken. »Geben Sie mir fünfunddreißig Minuten.« Sie legte auf.
Das grelle Neonlicht im Badezimmer fuhr ihr stechend in die Augen. Sobald sie das leise Surren der Röhren hörte, verspannte sich ihre Nackenmuskulatur wieder. Sie band das Haar zum Pferdeschwanz, putzte sich rasch die Zähne, zog einen Kapuzenpullover an und warf noch eine Jeansjacke über. Gestern Nachmittag war es zwar noch recht warm gewesen, aber nachts kühlte es merklich ab und im Krankenhaus war es bestimmt eiskalt.
Vor der Haustür atmete Aimee einmal tief durch. Mitten in der Nacht allein in die Tiefgarage gehen zu müssen, machte ihr Angst und sie hasste sich dafür, denn Taylor brauchte sie jetzt. Nicht unterkriegen lassen! Du kannst die Angst besiegen!
Sie verschloss die Tür und nahm den Fahrstuhl in die Tiefgarage. Obwohl sie Turnschuhe trug, hallten
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