Wofür es sich zu leben lohnt
Genüssen zu finden, brauchen wir dringend den Blick solcher Anderen. Aber wir brauchen die Anderen nicht, um – wie es in lustfreundlichen Kulturen üblich ist – solidarisch
mit ihnen
zu feiern, sondern vielmehr, um
gegen sie
und gegen ihr Entsetzen zu feiern. Möglicherweise kann heute niemand mehr feiern, ohne dabei »skatologisch« zu agieren. Die Fetischparty-Mieter wollten nicht nur »rein« in ihr Normalleben zurückkehren; sie wollten wohl auch, dass jemand ihre Requisiten in der Mülltonne findet und abfällige Mutmaßungen über sie anstellt.
Wir brauchen das Entsetzen der Anderen, weil wir die öffentliche, niemals ganz ich-konforme Dimension der Lust überhaupt nicht mehr an uns selbst dulden können. Die Anderen werden dann an die Stelle unserer Selbstbeurteilung gesetzt; ihre Missbilligung unseres Verhaltens erspart uns dann bequemerweise unsere eigene, noch schlimmere. Das ist das Kindliche an uns: Uns fehlt jeder Humor, insofern der Humor die Fähigkeit ist, liebevoll auf das Fremde an sich selbst herunterzublicken. Darum können wir uns keinen Anderen vorstellen, der uns unsere Freude gönnt.
4 . Die Ordnung des Erscheinens.
Die Komödie des Materialismus
Ein typisches Kennzeichen des Materialismus ist seine wortkarge, lakonische Haltung in Fragen der Philosophie. Der Materialismus hat immer versucht, sich so kurz wie möglich zu fassen. Wie Louis Althusser einmal formuliert, müssen die materialistischen Argumente so knapp gehalten sein, dass sie in einer »hohlen Hand« Platz finden (s. Althusser 1975 : 81 ).
In der Philosophie lakonisch zu sein beinhaltet eine materialistische Auffassung vom Philosophieren – und zugleich von der Differenz dieses Geschäfts von jenem der Wissenschaften. Denn offenbar erreichen die Wissenschaften ihre Schärfe durch
Verfeinerung
. Die Philosophie hingegen erreicht ihre Schärfe – nach materialistischer Auffassung – dadurch, dass sie versucht,
so grob wie möglich
zu werden. So scharf zu sein wie möglich, indem man so grob wird wie möglich – diese doppelte Aufgabe der Philosophie lässt sich vielleicht vergleichen mit der doppelten Aufgabe der Kunst, wo es bisweilen darauf anzukommen scheint,
so klug wie möglich
zu sein, indem man zugleich
so mühelos wie möglich
wird. [45]
Dank ihrer durch Knappheit und Grobheit erzielten Eindringlichkeit versuchen die materialistischen Thesen, wirksamer und beweglicher zu sein als die umfassenderen, differenzierteren und behäbigeren Darstellungsformen des Idealismus. Das ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die materialistische Philosophie beansprucht, sofort wirken und helfen zu können. [46] Während die idealistische Philosophie bekanntlich gerne in Dimensionen von Ewigkeiten denkt und darum viel Zeit hat für ihre Systeme, legt es der Materialismus auf Sofortwirkung an. Um sich möglichst noch in diesem Leben zu lohnen, fasst er sich kurz.
Um mich also kurz zu fassen, möchte ich versuchen, ein materialistisches Programm in Form von zwei Thesen zu präsentieren. Um sie jedoch scharf zu machen – das heißt: kritisch in Bezug auf die vorherrschende Ideologie der Gegenwart – werde ich die Hilfe einer besonderen Verbündeten in Anspruch nehmen, die der Materialismus im Feld der Kunst sowie des Alltagslebens besitzt. Diese Verbündete ist die Komödie.
Die Komödie ist die Vertreterin des Materialismus auf der Bühne des Theaters, der Kinoleinwand und auf den diversen Bildschirmen. Und nicht nur das: Sie erfüllt nicht einfach bloß als brave Soldatin ihr philosophisches Programm, sondern vielmehr macht sie – oft besser, als manche Philosophen es verstanden haben – deutlich, worin dieses Programm besteht. Die Komödie präzisiert den philosophischen Materialismus. Die beiden zusammenhängenden Thesen, mit denen die Komödie ihn zur Darstellung und Präzisierung bringt, sind die These von der einen Welt sowie die These vom Vorrang der Erscheinung.
1 . Die These von der einen Welt:
»Her mit dem schönen Leben!«
Philosophischer Materialismus wird oft in dem Satz zusammengefasst:
»Die Dinge da draußen existieren unabhängig von unserem Bewusstsein; sie sind also auch dann da, wenn wir sie nicht wahrnehmen oder an sie denken.«
– In dieser Form erscheint die These von der Materialität als eine ontologische oder erkenntnistheoretische. Die Komödie aber lehrt uns, dieser These einen etwas veränderten Akzent zu geben und sie nicht in erster Linie als ontologische bzw.
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