Wohin das Herz uns trägt
Straße und stiegen die Stufen zur Grundschule von Rain Valley hinauf. Überall um sie herum scharten sich Frauen, die ihre Kinder an den Händen hielten. Eine hübsche Rothaarige mit leuchtenden, tränennassen Augen lächelte Julia zu. »Es ist das erste Mal für mich«, erklärte sie. »Dass ich Bobby zur Schule bringe, meine ich. Ich hoffe bloß, ich blamiere ihn nicht, wenn ich hier in Tränen ausbreche.«
»Ich weiß genau, was Sie meinen«, erwiderte Julia. Es war schwer, Alice in die Welt hinausziehen zu lassen, aber sie musste es tun.
Als sie den Korridor hinuntergingen, ertönte eine Glocke. Kinder und Eltern verteilten sich in die verschiedenen Klassenräume.
Angespannt sah Alice zu Julia empor. »Mommy?«
»Ich bleibe den ganzen Tag draußen vor der Tür sitzen und warte auf dich. Wenn du nervös wirst, brauchst du bloß aus dem Fenster zu sehen, in Ordnung?«
»Ja«, antwortete sie, aber es klang nicht sehr überzeugt.
»Komm, Alice«, sagte Sarah. »Ich zeige dir, wo Miss Schmidts Zimmer ist.«
So zuckelte Alice das letzte Stück des Korridors hinter Sarah her, warf Julia an der Tür von Zimmer 114 einen letzten besorgten Blick zu und verschwand.
Julia stieß einen tiefen Seufzer aus und hätte gern gleichzeitig gelacht und geweint.
»Deine mag nicht gehen, und meine können es kaum abwarten«, stellte Ellie trocken fest.
»Deine haben auch nicht durchmachen müssen, was Alice durchgemacht hat. Vielleicht ist es doch noch zu früh ...«
Ellie legte den Arm um ihre Schwester und zog sie an sich. »Sie wird es schaffen.«
Arm in Arm verließen sie die Schule, gingen die Treppe hinunter und über die Straße in den Park. Dort nahmen sie auf der kalten Holzbank Platz und starrten gedankenverloren hinaus auf die Stadt, die ihr Leben geformt hatte. Der Ahornbaum, auf dem Alice damals Schutz gesucht hatte, erstrahlte in leuchtendem Gelb.
»Was machst du denn jetzt, wo sie in die Schule geht?«, wollte Ellie wissen, während sie sich bequem zurücklehnte. »Ab nächstes Jahr ist sie den ganzen Tag weg.«
In letzter Zeit hatte sich Julia diese Frage schon mehrmals gestellt. Sie musste sich überlegen, was sie künftig mit sich anfangen wollte. Von den Antworten, die sie in ihrem Innern fand, war sie selbst ziemlich überrascht. Fast ihr halbes Leben hatte sie sich ihrer Karriere gewidmet, sie war ihr Ein und Alles gewesen. Und dennoch war im Handumdrehen damit Schluss gewesen. Vielleicht trug sie eine Teilschuld daran - sie würde nie wissen, ob sie Ambers Schicksal hätte ändern können aber auf Schuld kam es nicht an. Das war die Lektion, die sie gelernt hatte. Das Leben war so unglaublich zerbrechlich. Wenn man das Glück hatte, eine liebevolle Familie zu besitzen, musste man dieses Glück sorgfältig bewahren. Nie mehr würde sie sich vor der Liebe fürchten. Sie wandte sich zu ihrer Schwester um. »Max hat gefragt, ob ich ihn heiraten will.«
Ellie kreischte auf, nahm Julia in den Arm und drückte sie fest.
»Ich dachte, ich könnte eigentlich auch hier eine Praxis eröffnen und halbtags arbeiten. Es gibt bestimmt Kinder, die mich brauchen.«
Ellie löste sich von ihr. »Mom und Dad wären so stolz auf dich, Jules.«
Julia lächelte. »Ja.« Einen Moment schloss sie die Augen und erinnerte sich - an die Frau, die sie vor nicht einmal einem Jahr gewesen war, voller Angst vor sich selbst und vor ihren Gefühlen ..., an das kleine Mädchen namens Alice, das ihr so ans Herz gewachsen war ..., an den Mann, der das Dunkel seiner Vergangenheit hinter sich gelassen und zusammen mit ihr tief in diesem uralten Wald das Licht gefunden hatte. Noch viele Jahre würde man in Rain Valley von diesem Ereignis sprechen, von der Zeit, als ein Kind, das anders war als alle anderen, aus dem Wald und in ihr Leben getreten war - und sie alle verändert hatte. Mitten im Oktober hatte es begonnen, als die Bäume sich orange färbten, als die Blätter im kalten, nach Regen duftenden Wind tanzten und als die Sonne mit ihrem goldenen Schein die Welt zum Strahlen brachte.
Die magische Stunde.
Für den Rest ihres Lebens würde Julia sich daran erinnern, als die Zeit, in der sie endlich heimgekommen war.
------- Ende -------
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