Wohin das Herz uns trägt
»Ich hab versucht, ihr in Olympia etwas zu essen zu kaufen. Sie ... sie hat völlig durchgedreht. Hat geheult. Und geknurrt. Dr. Correll konnte sie nicht beruhigen.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Julia leise.
»All die Jahre im Gefängnis ... Ich hab geträumt, dass sie noch am Leben ist...«
Auf einmal empfand Julia tiefes Mitgefühl mit ihm. Langsam stand sie auf. »Ich weiß.«
»Ich hab mir immer wieder vorgestellt, wie es wäre, sie zu finden ..., ich dachte, sie würde mir um den Hals fallen, mich küssen und mir sagen, wie sehr sie mich vermisst hat. Ich hätte nie gedacht ..., ich habe mir nie klar gemacht, dass sie mich nicht mehr erkennen würde.«
»Sie braucht Zeit, um sich zu erinnern ...«
»Nein. Sie ist nicht mehr mein kleines Mädchen. Vermutlich hatten Sie recht, als Sie sagten, dass sie das nie war. Ich war ja tatsächlich nie zu Hause, als sie klein war ... Und jetzt ist sie Alice.«
Einen Moment blieb Julia die Luft weg. Hoffnung flackerte in ihr auf, ein winziges Flämmchen in der Dunkelheit. Sie hörte, wie Max neben sie trat. »Was meinen Sie damit?«
George Azelle starrte auf seine Tochter hinunter. Auf einmal wirkte er viel älter, gezeichnet von schweren Entscheidungen und einem noch schwereren Leben. »Ich glaube, ich bin nicht der Mensch, den sie braucht«, sagte er so leise, dass Julia ihn kaum verstehen konnte. »Ich weiß nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Sie zu lieben und sie zu versorgen ..., das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Sie gehört hierher. Zu Ihnen.«
Julia packte Max‘ Hand und hielt sie fest, ohne Azelle dabei aus den Augen zu lassen. »Sind Sie sicher?«
»Sagen Sie ihr ... irgendwann einmal ..., dass ich sie geliebt habe, auf die einzige Art, die ich kenne ..., indem ich sie habe gehen lassen. Sagen Sie ihr, dass ich auf sie warte. Sie muss nur ein Wort sagen.«
»Sie werden immer ihr Vater sein, George.«
Er ging rückwärts eine Stufe hinunter, dann die nächste. »Sicher meinen die Leute jetzt, ich hab sie im Stich gelassen.«
Julia hätte ihm gern gesagt, dass das nicht stimmte, doch sie wussten es beide besser. Bei den Medien hatte er keine Chance. »Aber Ihre Tochter wird die Wahrheit erfahren, das schwöre ich Ihnen, George. Sie wird immer wissen, dass ihr Vater sie liebt.«
»Und ich kann ihr nicht mal einen Abschiedskuss geben.«
»Eines Tages werden Sie das können, George. Das verspreche ich Ihnen.«
»Bleiben Sie in ihrer Nähe«, sagte er. »Ich hab den Fehler gemacht, nicht für sie da zu sein.«
Julias Kehle war wie zugeschnürt, und sie konnte nur nicken. Wäre die Szene Teil eines Disney-Films gewesen und nicht das wahre Leben, hätte Alice ihren Vater jetzt umarmt und ihm auf Wiedersehen gesagt. Aber in Wirklichkeit presste sie sich an die Hauswand und versuchte, sich unsichtbar zu machen, mit ihrem zerkratzten Gesicht, voller Blut und Tränen.
Langsam drehte Azelle sich um und ging davon. In der Auffahrt blieb er einen Augenblick stehen und winkte noch ein letztes Mal, dann stieg er ein und fuhr weg.
Julia kniete sich vor Alice.
Die Kleine stand da, die dünnen Arme an den Körper gepresst, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Lippen und ihr Kinn bebten, ihre Augen waren voller Tränen, die ihre Unsicherheit und Verwirrung noch vergrößerten.
Auch Julia weinte, aber gleichzeitig lächelte sie, überwältigt von ihren Gefühlen, am ganzen Körper zitternd.
Voller Angst beobachtete Alice, wie George davonfuhr, dann wandte sie sich Julia zu. »Alice heim?«
»Ja, Alice ist daheim«, nickte Julia.
»Dschulie Mommy«, flüsterte Alice leise und warf sich endlich in Julias weit geöffnete Arme.
Der Ansturm war so heftig, dass sie eng umschlungen auf den Holzboden taumelten. Julia küsste Alice, ihre Wangen, ihren Hals, ihre Haare.
Und Alice vergrub den Kopf in Julias Halsbeuge. Sie spürte ihren eigenen leisen Atem, als sie sagte: »Liebe Dschulie Mommy. Alice bleib.«
»Ja«, antwortete Julia, lachend und weinend zugleich. »Alice bleibt.«
Epilog
Wie immer war der September der schönste Monat des Jahres. Lange, warme Sonnentage gingen über in kühle, erfrischende Nächte. Überall in der Stadt war das Gras dicht, samtweich und unglaublich grün. Zwischen den mächtigen Nadelhölzern sah man Ahornbäume und Erlen im rot-goldenen Sonntagsstaat. Die Schwäne hatten den Spirit Lake für dieses Jahr verlassen, aber überall auf den Telefonleitungen hockten Krähen, krächzten und lärmten, was das Zeug
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