Wohin das Herz uns trägt
aller Wahrscheinlichkeit. Natürlich wollte er sie mit nach Hause nehmen. Er hatte die besten Psychologen eingestellt, aber Julia hatte schreckliche Angst, dass das nicht reichen würde. Doch wie konnte sie das Unvermeidliche aufhalten?
Sie seufzte tief und drückte Alice noch fester an sich. Draußen fuhr ein Auto vor.
»Mommy?«, sagte Alice wieder. Diesmal war es ihre Kleinmädchenstimme, zittrig und voller Angst.
»O Alice«, flüsterte Julia und berührte ihre weiche Wange. »Ich wollte, ich könnte deine Mommy sein.«
* * *
Alice hat ein ganz schlechtes Gefühl. Es ist wie damals, als Er zum ersten Mal weggegangen ist und sie so hungrig war, dass sie die roten Beeren von dem Busch am Fluss gegessen hat und sich danach übergeben musste.
Dschulie sagt Dinge, die Alice nicht verstehen kann. Sie strengt sich an, denn sie weiß, dass die Worte wichtig sind. Vater. Tochter. Dschulie sagt das alles besonders langsam, als würden die Worte ihr nur schwer über die Lippen kommen. Alice weiß, dass sie etwas ganz Wichtiges bedeuten.
Aber sie schafft es einfach nicht, sie zu begreifen, und jetzt tut ihr alles weh vor lauter Anstrengung.
Dauernd kommt Wasser aus Dschulies Augen.
Alice weiß, das bedeutet, dass Dschulie traurig ist. Aber warum? Was hat Alice falsch gemacht?
Sie hat sich so sehr bemüht, gut zu sein. Sie hat den Erwachsenen den bösen Ort im Wald gezeigt, ist sogar zu den Steinen gegangen, unter denen Sie liegt, obwohl das Alice sehr traurig gemacht hat. Sie hat sich an Dinge erinnert, die sie lieber vergessen möchte. Sie hat gelernt, Gabeln und Löffel und das Klo zu benutzen. Sie hat sich Alice nennen lassen und das Wort sogar lieben gelernt, hat gelernt, innen zu lächeln, wenn jemand es sagt und sie damit meint.
Was ist noch übrig, was hat sie nicht getan?
Sie kennt das Weggehen. Mommys, die bald TOT sind, haben blasse Gesichter, und viel Wasser tropft aus ihren Augen. Sie versuchen dir Dinge zu sagen, die du nicht verstehst, und sie halten dich so fest im Arm, dass du keine Luft mehr kriegst.
Und dann sind sie eines Tages fort, und du bist allein, und du wünschst, aus deinen Augen würde Wasser kommen und jemand würde dich noch mal festhalten, doch jetzt ist niemand mehr da und du weißt nicht, was du falsch gemacht hast.
Alice fühlt die Übelkeit in ihrem Magen zurückkehren, die Panik, die macht, dass ihr das Atmen wehtut.
»Schuhe!«, ruft sie plötzlich. Vielleicht ist es das. Sie zieht nicht gerne Schuhe an. Sie zwicken an den Zehen und quetschen die Füße zusammen, aber wenn Dschulie sie dann weiter lieb hat, behält Alice sie auch im Bett an. »Schuhe.«
Dschulie lächelt Alice an, traurig, kläglich. Von draußen kommt ein Geräusch, ein Auto fährt auf den Hof. »Jetzt brauchst du keine Schuhe, Schätzchen. Wir sind doch im Haus.«
Wie kann sie sagen Ich will gut sein, Dschulie ? Immer. Immer. Ich tue alles, was du sagst.
»Gutes Mädchen«, flüstert Alice, verspricht es mit jeder Faser ihres Herzens.
Wieder lächelt Dschulie. »Ja. Du bist ein sehr gutes Mädchen, mein Schatz. Deshalb tut es ja so weh.«
Es reicht also nicht, dass sie ein gutes Mädchen ist. So viel versteht Alice.
»Nicht weggehn Alice«, sagt sie verzweifelt.
Dschulie schaut zu dem Glaskasten, der das Draußen weghält. Zum Fenster.
Sie wartet. Das weiß Alice. Auf etwas Schlechtes.
Dann wird Dschulie weggehen.
Und aus Alice wird wieder Mädchen werden ... und sie wird ganz allein sein. »Gutes Mädchen«, sagt sie noch einmal, und ihre Stimme klingt ganz brüchig. Sonst kann sie nichts sagen. Sie rennt durchs Zimmer, holt ihre Schuhe und versucht, richtig herum hineinzuschlüpfen. »Schuhe. Versprochen.«
Aber Dschulie antwortet nicht, sondern starrt nur nach draußen.
Kapitel 26
Ellie sah die Übertragungswagen, die auf beiden Seiten des alten Highways parkten. Eine weiße Polizeisperre blockierte ihre Ausfahrt. Davor stand Peanut mit verschränkten Armen, die Trillerpfeife zwischen den Lippen.
Eine Sekunde stellte Ellie Blaulicht und Sirene an, und sofort war die Straße frei. Die Reporter teilten sich in zwei Gruppen, eine auf jeder Straßenseite. Ellie fuhr an die Absperrung und ließ das Fenster herunter, um mit Peanut sprechen zu können.
»Die Leute vom Fernsehen gefährden den Verkehr. Hol Earl und Mel, sie sollen sie auseinandertreiben. Der Tag heute ist schon schlimm genug, da brauchen wir nicht auch noch die Medien.«
Hinter dem Streifenwagen hielt ein leuchtend roter
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