Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
letzte Wort über sie zu behalten. Anne war der Grund, dass ich mich auf dieses Buch einließ. Wenn ich über andere Familienmitglieder schrieb, dann deswegen, um sie zu erklären. Vor allem wollte ich ihrem Leben jenen Wert geben, den sie ihm selbst nicht zugeschrieben hatte. Obwohl ihr Tod noch zu nahe war, als dass ich hätte darüber schreiben können, hatte ich vor, mit ihr zu beginnen und zu enden.
Ich dachte, ich hätte ideale Quellen – zugänglich, vielfältig und reichhaltig, ohne abschreckend umfangreich zu sein. Ich hatte einen Erinnerungstext, den Anne auf meine Bitte hin Anfang der 1990er Jahre verfasst hatte, als ich mich mehr und mehr für die Gallias zu interessieren begann. In ihren Schränken in Canberra gab es einen wahren Schatz an Dokumenten. Es gab die Familiensammlung von Objekten der Wiener Werkstätte; als sie die Nationalgalerie von Victoria in Melbourne 1976 ankaufte, war sie der einzige Hoffmann-Auftrag von Bedeutung, der so gut wie vollständig in ein Museum kam; nicht einmal das Museum für angewandte Kunst in Wien hatte Vergleichbares. Es gab Hermines Porträt, 1976 von der National Gallery in London erworben und damit das einzige Klimt-Gemälde in einem englischen Museum.
Ich wollte natürlich noch mehr und sah mich weiter um, absolvierte nicht nur ein beträchtliches Arbeitspensum in Archiven, Bibliotheken und Museen, sondern besuchte auch die Städte, woher die diversen Verwandten stammten, die Gebäude, wo sie gelebt und gearbeitet hatten, die Friedhöfe, wo sie begraben lagen. Ich fand etliches, doch nichts reichte an die Schränke meiner Mutter heran; sie enthielten viel mehr, als ich angenommen hatte. Es gab Konzertbücher, Wetterbücher, Reisetagebücher, Autografenbücher, Skizzenbücher, Rezeptbücher und ein Gästebuch. Es gab Geburts- und Totenscheine, Heirats- und Scheidungsdokumente und einen Ehevertrag, Dokumente über den Austritt aus einer Religion und den Eintritt in eine andere. Es gab Schulhefte und -auszeichnungen, Pässe, Briefe, Postkarten, Gedichte und Menükarten. Es gab Bücher mit Widmungen und Randbemerkungen, Theater-, Konzert- und Kinoprogramme. Es gab Fotos, nicht nur von Verwandten, sondern auch von den Häusern und Wohnungen, in denen sie lebten. Es gab einen Bericht über eine Verhaftung und einen Gefängnisaufenthalt.
Diese Quellen führten mich tiefer in die Vergangenheit, als ich jemals für möglich gehalten hatte, und sie verwandelten die Position meiner Mutter in diesem Buch auf eine Art, der ich nicht widerstehen konnte. Das Personal vervielfältigte sich, während ich mich mit vielen Verwandten beschäftigte, mit denen Anne nichts zu tun haben wollte; gleichzeitig änderte sich die Gewichtung Hermines und Gretls am stärksten. Da ihre erhaltenen Tagebücher weitaus reichhaltiger waren als erwartet, fühlte ich mich verpflichtet, sie entsprechend zu berücksichtigen. Darin ging es darum, wie die Gallias in Wien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hatten, und so wurde dieser Teil des Buches immer umfangreicher. Allmählich wurde es ein Buch über drei Generationen von Frauen: meine Urgroßmutter, meine Großmutter und meine Mutter.
Zudem kam ich der Gegenwart näher als geplant. Ursprünglich hatte ich mit der Flucht Gretls, Käthes und Annelores aus Wien aufhören wollen, denn ihr Leben in Australien schien zu gewichtig, um es in dem Buch unterzubringen. Doch als ich sie glücklich nach Sydney gebracht hatte, erkannte ich, dass ich weitermachen musste, wenn auch selektiv. Ich wollte herausfinden, wie sie damit zurechtgekommen waren, ihre Privilegien zu verlieren, wie es für sie war, nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs als »enemy aliens«, feindliche Ausländer, klassifiziert zu werden, und wie ihre religiöse Einstellung sich wandelte. Ich musste zeigen, wie sie auf eine vollkommen andere Kultur reagierten, wie sie, nachdem sie sich in Österreich so sehr um Assimilation bemüht hatten, in Australien einen neuen Versuch dazu unternahmen, und wie sie trotz aller erlittenen Verfolgungen Österreich tief verbunden blieben. Mein Fazit war: Ich musste erkunden, was es für Annelore bedeutete, Anne zu werden.
Zudem wollte ich unbedingt herausbekommen, was mit der Sammlung der Familie geschehen und wie es Gretl und Käthe gelungen war, ihre Gemälde und Möbel nach Australien zu schaffen, da doch die Nazis in Österreich so viele Kunstgegenstände geraubt hatten. Doch wieder bemerkte ich, dass ich mich in Richtung Zukunft
Weitere Kostenlose Bücher