Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
bereit für den Transport rund um den Erdball.
Ihre Transportkisten enthielten alle nur vorstellbaren Einrichtungs- und persönlichen Gegenstände, von Kronleuchtern bis zu Fußabstreifern, von Kuchenformen bis zu Ferngläsern, Spitzen und Leinen, Schlittschuhen und Skiern, Briefen und Tagebüchern, Rechnungen und Quittungen. Ein Klavier genügte nicht, Gretl und Käthe nahmen zwei mit: ein Pianino und einen Flügel. Und Bilder: Porträts, Landschaften, Seestücke, Stillleben, Genrebilder, eine Straßenszene, ein Interieur. Jede ihrer drei Garnituren Silberbesteck bestand aus mehr als 150 Teilen. Die größte ihrer drei Vitrinen war mehr als eineinhalb Meter breit und beinahe zwei Meter hoch, ihr größter Bücherschrank mehr als sechs Meter lang.
Einige dieser Sachen hatten die Schwestern von ihrem Onkel Adolf Gallia und seiner Frau Ida geerbt; diese hatten zu einer Zeit, als nur drei von hundert Wienern eine eigene Wohnung besaßen, in einem riesigen Gebäude an der Wiener Ringstraße, das ihnen gehörte, das prächtigste Appartement bewohnt. Fast alles andere stammte von den Eltern der Schwestern, Moriz und Hermine, die in der Wohllebengasse im vierten Bezirk gewohnt hatten, unweit vom Ring. Die Gasse war zwar nach einem Wiener Bürgermeister vom Anfang des 19. Jahrhunderts benannt, Stefan Edler von Wohlleben, doch das Wort symbolisierte auch zutreffend, welches Gepräge die weitläufige und elegante Straße ein Jahrhundert später aufwies.
In der Familie war es üblich, die feinsten Waren zu kaufen, die besten Sorten, die renommiertesten Marken. So war das Dinnerservice, das Gretl von ihrer Tante Ida erbte, eine der frühesten Garnituren von »Flora Danica«, dem berühmten, in Handarbeit hergestellten, mit dänischen Pflanzen handbemalten Porzellan aus der Manufaktur Royal Copenhagen, so war der von ihrer Mutter geerbte Flügel ein Steinway. Unter ihren Pelzen fanden sich Chinchilla- und Zobelstolas und ein Mantel aus Seehundfell. Ihre bemerkenswertesten Besitztümer aber waren die Gemälde, Möbel, das Silber, die Keramik und Glaswaren, die einmal Moriz und Hermine gehört hatten. Beinahe alles stammte aus der Zeit der Jahrhundertwende, als Wien eines der dynamischsten Kultur- und Geisteszentren weltweit gewesen war, eine der für die Entwicklung der Moderne maßgeblichen Städte, wo nicht nur, wie seit Jahrhunderten, herrliche Musik entstand, sondern auch große Kunst, Design, Architektur, Literatur, Wissenschaft und Philosophie.
Die Großfamilie Gallia gehörte während der kulturellen Hochblüte von 1898 bis 1918 zu den wichtigsten Mäzenen für hochwertige Kunst und das beste Design der Stadt. Bei ihrer Flucht 1938 nahmen Gretl und Käthe das meiste von dem mit, was Moriz und Hermine gesammelt und in Auftrag gegeben hatten. Ihre Kisten mit den Sachen aus der Wohllebengasse enthielten die bedeutendste Privatsammlung von Kunst und Design, die das nationalsozialistische Österreich verlassen konnte.
Das Haus Wohllebengasse 4. Um 1913. 1
Ihr Bestimmungsort war ein Wohnblock in Cremorne, einem Vorort von Sydney; er war gebaut wie hundert andere in der Stadt, als wäre Design unwichtig, zahle Architektur sich nicht aus, und Ästhetik wäre für anderswo bestimmt. Das Material war die ortsübliche Kombination aus mattroten Ziegeln und grellbunten Terrakottafliesen. Der Zugang zur Eingangstür über einen schmalen Weg an der Seite des Gebäudes war unzweckmäßig, das Treppenhaus kalt und eng. Das einzig Bemerkenswerte an dem Gebäude – die Aussicht über den Hafen, die beinahe von Sydney Heads bis zum Stadtzentrum am Circular Quay reichte – verdankte alles der Natur und nichts der Kultur.
Eine Radierung im Vorzimmer von Wohnung Nummer 3 ließ erkennen, dass die Einrichtung hier anders aussah. Das kleine Bild zeigte einen Mann im Profil, die dichte Haarmähne aus der hohen Stirn nach hinten gestrichen, eine randlose Brille auf der Nase, die Fliege verrutscht, der Gesichtsausdruck entschlossen. Wäre der Dargestellte unbekannt gewesen, es wäre immer noch ein fesselndes Porträt gewesen; doch es war sein Ruhm, der das Bild in Ausstellungen und auf Buchumschläge brachte. Es war erstmals 1903 in der Secession zu sehen gewesen, der von Gustav Klimt angeführten Gruppe von Malern, Architekten und Designern, welche die Wiener Kunst zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts erneuert hatte. Das Bild stammte von Emil Orlik, einem prominenten Secessionsmitglied; er hatte seine Signatur und das Datum in kaum
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