Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
um die Jahrhundertwende veränderte. Der Eintritt in die Wiener Secession an diesem Samstag, dem 14. November 1903, war auf Mitglieder der Künstlervereinigung und eine ausgewählte Gruppe von Eingeladenen, viele davon Sammler, beschränkt. Der Rest des Publikums musste bis zum nächsten Tag warten, um die 18. Ausstellung der Secession sehen zu können.
Die Besucher waren großteils Frauen, für den eleganten Anlass mondän gekleidet; einige trugen mit auffälligen Vogelfedern geschmückte Hüte, andere Schleier, etliche immer noch die herkömmlichen, eng geschnürten Kleider mit Wespentaille und ein Korsett, wieder andere lose fallende, als vernünftig geltende Reformkleider; die meisten kamen in Pelzmantel und Muff. Alma Schindlers Tagebuch lässt vermuten, dass viele Besucher Juden waren. Nach einer Privatbesichtigung einer anderen Secessionsausstellung bemerkte Alma: »Ganz Israel versammelt, wie immer. Wie bei einem Tempelfest.«
Unter ihnen war Hermine Gallia. Wahrscheinlich kam sie regelmäßig zu den Privatvernissagen der Secession, die 18. Ausstellung der Künstlervereinigung aber war für sie besonders bedeutsam, denn dort erschien sie in neuem Gewand: Bei dieser privaten Schau war zum ersten Mal ihr von Klimt gemaltes Porträt zu sehen. Im Ausstellungskatalog firmierte es zwar einfach als »Porträt einer Dame« – die übliche Vorgangsweise der Secession, die Porträtierten sollten anonym bleiben –, doch alle, die Hermine etwas bedeuteten, würden bald herausgefunden haben, dass sie nun zu der kleinen Gruppe von Frauen gehörte – es waren erst sieben –, die vom erfolgreichsten und berüchtigtsten Maler Wiens gemalt worden waren.
Wie hätte man Hermine an diesem Vormittag wohl beschrieben? Sie war die Tochter eines wohlhabenden Industriellen aus der kleinen schlesischen Stadt Freudenthal. Sie war mit ihrem Onkel Moriz verheiratet, der als Geschäftsmann in Wien ein Vermögen gemacht hatte. Sie war 33 Jahre alt, nach der Rechenweise der Zeit bereits in mittleren Jahren, eine Matrone aus der guten Gesellschaft. Sie war nicht bloß Frau Gallia, sondern Frau Regierungsrat Gallia, Kaiser Franz Joseph hatte Moriz diesen Titel verliehen. Sie war vertraut mit vielen führenden Wiener Malern, Architekten und Musikern, befreundet mit einem oder zweien, bekannt mit vielen. Sie war Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde und Mutter von vier Kindern, ein Junge und drei Mädchen, alle katholisch.
Das Porträt von Klimt wies auf ihren Status hin und sollte ihn zugleich erhöhen, indem es den Reichtum und den Geschmack der Gallias und ihre Unterstützung der Avantgarde demonstrierte. Hermine und Moriz betrachteten das Gemälde zwar in erster Linie als privates Bild, das in der Wohnung hängen sollte, doch das Porträt, so erwarteten sie, würde den Blick ihrer vielen Besucher auf sie mitprägen. Es würde wohl wie die meisten Klimt-Gemälde um die Jahrhundertwende nach der Fertigstellung in der Secession präsentiert werden, sodass Klimt zeigen konnte, was er eben geschaffen hatte, und sie, was sie erworben hatten. Für sie war das Porträt eine Investition in die Zukunft, ein Anspruch auf ein Nachleben; mochte Klimt derzeit noch berüchtigt sein, so würde man sich doch in dieser Form am ehesten an Hermine erinnern. Es war die Gestalt, in der sie die größte Chance hatte, berühmt zu werden, eine Möglichkeit, sie nicht nur in der privaten Familiensphäre, sondern auch in der öffentlichen Arena der Kunst fortleben zu lassen.
Der Aufschrei über Klimts Arbeiten hatte Ende der 1890er Jahre begonnen, als er in kurzer Zeit von einem Künstler mit großer technischer Fertigkeit, aber wenig Originalität zu einem der innovativsten, phantasievollsten Künstler Europas wurde. Klimts Abwendung von der traditionellen Ikonografie hatte zur Folge, dass man einige seiner Gemälde als hässlich, unnatürlich und unverständlich abstempelte, aber auch als wagemutig und tiefgründig lobte. Wegen der erotischen Komponente in vielen seiner Werke bezeichnete man sie als obszön. Im Fall der riesigen Gemälde »Philosophie« und »Medizin«, die die kaiserliche Regierung für die Wiener Universität in Auftrag gegeben hatte, reichten Abgeordnete und Universitätsprofessoren Petitionen und Gegenpetitionen ein. Unterdessen brachten ihm sein Plakat für die erste Secessionsausstellung 1898 und eine Sonderausgabe der Zeitschrift
Ver Sacrum
1901 Ärger mit dem Gesetz ein, im ersten Fall wegen seiner Darstellung eines nackten
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