Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
als seinen Kollegen in der Erforschung der »thörichte[n] und frevelhafte[n] Geringschätzung, welche die Menschen heute für die Erotik bereit halten«, bezeichnet hatte.
Die Wohnung war deshalb so bemerkenswert, weil große Teile der Einrichtung von Hoffmann als Gesamtkunstwerk entworfen worden waren, wie es sich die Wiener Secession und die Wiener Werkstätte zum Ziel gesetzt hatten. Moriz und Hermine hatten mehr als ein Jahrzehnt lang Hoffmanns Werke gekauft, das meiste aber, das er für sie schuf, stammte aus einem einzigen Auftrag: fünf der straßenseitigen Räume ihrer Wohnung in der Wohllebengasse einzurichten. Da Hoffmann nach eigener Einschätzung Gesamtinterieurs schuf, in denen jedes Element von Bedeutung war und nur an eine bestimmte Stelle passte, konnte man diese Einrichtungen nie komplett von einem Gebäude in ein anderes übertragen, schon gar nicht von einer Seite der Erde auf die andere. Gretl und Kathe allerdings kamen dem bemerkenswert nahe, als sie nach der Landung in Sydney 1939 beschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, und die Hoffmann-Sachen, die jede von Moriz und Hermine geerbt hatte, wieder zusammenführten. Dreißig Jahre lang, solange das Appartement in Cremorne den Gallias Heimstätte war, gab es keine vergleichbare Wohnung in New York, Zürich oder London, Budapest oder Prag. Und auch in Wien selbst existierte nichts Derartiges, da die meisten Hoffmann-Einrichtungen zerstört oder zerstreut worden waren. Die Einrichtung dieser Wohnung war der Triumph eines Möbelpackers, ein großartiger Teil des Wien der Jahrhundertwende, versetzt an die Botany Bay.
Ich kam zum ersten Mal als Baby in diese Wohnung. Anne nahm mich kurz nach meiner Geburt 1957 mit, und bald ging ich regelmäßig hin, meist mit meinem älteren Bruder Bruce. Erwachsene, die zu Besuch kamen, hatten die Räume als klaustrophobisch in Erinnerung, sie waren so vollgestopft und die meisten Möbel schwarz, ich aber fühlte mich als Junge dort absolut wohl. Ich hatte keine Ahnung, dass viele der Einrichtungsgegenstände Gretls und Kathes für Räume gestaltet worden waren, die mindestens zwei- bis dreimal, wenn nicht viermal so groß waren: Räume mit hohen Plafonds, an denen Kronleuchter gut zur Geltung kamen, Räume mit kannelierten Säulen und Marmorverkleidungen, die zu denen an den Möbeln passten, Räume, die mindestens ebenso sehr für Besuche wie für ein Familienleben geschaffen waren, Räume, in denen Hausmädchen in Dienstkleidung servierten. Ich wusste zwar, dass Gretl und Kathe Österreich als Flüchtlinge verlassen hatten, empfand aber nie, ihre Sachen seien am falschen Platz. Ich dachte, alles in der Wohnung sei am perfekten Ort, genau wie vorgesehen.
Ich hatte auch kein Auge dafür, in welchem Zustand viele Möbel waren. Falls es mir auffiel, dass nur die größere der beiden Anrichten eine marmorne Platte hatte, dann kam es mir jedenfalls nie in den Sinn, dass die kleinere ebenfalls eine gehabt haben musste; sie war beim Transport zerbrochen. Ich hatte keine Ahnung, dass der größte Tisch beschnitten worden war, um in das Wohnzimmer zu passen. Ich sah nicht, dass der Stoff an der Rückseite der einen Vitrine in der Veranda kirschrot war, der andere jedoch unter der Sonne von Sydney zu einem blassen Rosa ausgebleicht. Ich wusste nicht, dass der Küchentisch, den Gretl und Kathe mit einer roten Laminatoberfläche versehen und weiß gestrichen hatten, zu der für Hermines Schlafzimmer entworfenen weiß-goldenen Hoffmann-Garnitur gehört hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass einige der Stühle einst mit burgunderrotem Maroquinleder gepolstert gewesen waren, andere mit leuchtend grünem Wollstoff, umfasst von einer schwarzweißen Kordel, wieder andere waren Hocker mit roter Seide und derselben schwarzweißen Einfassung. Ich nahm an, dass diese Stühle, so wie ich sie kannte, immer rote Vinylsitze gehabt hatten.
Ich kam sehr gerne in die Wohnung, und zwar wegen Gretl. Obwohl mir das damals nicht bewusst war, hatten Kathe und sie ein Abkommen getroffen. Sie hatten um Anne rivalisiert, seit diese ein kleines Mädchen war; mit Bruce und mir würden sie es nicht so machen. Kathe würde für uns kochen, Gretl sich um alles andere kümmern. Keine Großmutter konnte hingebungsvoller, großzügiger oder besitzergreifender sein. Sie hatte grenzenlos Zeit für mich, obwohl sie immer noch von zuhause aus arbeitete: Sie brachte Einwanderern aus Südeuropa per Fernkurs Englisch bei. Tag für Tag unterhielt und
Weitere Kostenlose Bücher