Wokini oder die Suche nach dem verborgen Glück
konnten, nur um festzustellen, dass sie genau so waren wie du und ich. Die Indianer waren nie mit Respekt behandelt worden. Trotzdem war diese Stelle besser als gar keine und außerdem die einzige, die sie sich leisten konnten. Sein Vater hatte das Auto verkauft, um die Beerdigung zu bezahlen. David verstand nicht, warum gerade seiner Familie dauernd etwas Schreckliches zu widerfahren schien. Er wollte nicht wieder zu hören bekommen, dass das Leben im Reservat eben nicht leicht sei. Simple Erklärungen wie diese stammten von Menschen, die die Hoffnung verloren hatten. David mochte solche Leute nicht.
Er hatte seine Schwester ebenso innig geliebt wie seine Mutter, die drei Jahre zuvor gestorben war, als er elf war. Jenes Jahr war für ihn sehr schwer gewesen und er rechnete damit, dass dieses nicht anders sein würde. Schmerz, Trauer, Einsamkeit und ausgehöhlte Erinnerungen – mehr hatte er angesichts ihres Todes nicht aufzubieten. Dann stellte sich die Depression ein. Mit ihr kam die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Das Gefühl war so übermächtig, dass David meinte, im Fluss zu stehen und von der starken Strömung fast fortgerissen zu werden. Sie bedrängte und schwächte ihn und würde ihn bald besiegen. Diese Art von Kraft triumphierte immer. David vermisste seine Schwester unendlich – weil sie seine Schwester und zugleich seine beste Freundin gewesen war. Er vermisste sie, weil er sie für das liebte, was sie sagte und tat. Und… ohne seine Schwester würden ihm die Tage länger, trüber und dunkler erscheinen denn je. David empfand eine tiefe Verwandtschaft zu ihr. Nach dem Tod der Mutter hatte sie geholfen, die kleineren Kinder großzuziehen, und er war der Ansicht, dass der Zusammenhalt der Familie allein ihr zu verdanken war. Es war für alle eine sehr harte Zeit gewesen, doch ihre Stärke hatte ihn viele Male wieder aufgerichtet. Sie war seine Ratgeberin und Vertraute. Sie lernte mit ihm und brachte ihm Mathematik so bei, wie sein Lehrer es niemals vermocht hätte. Sie spielte mit ihm, ging mit ihm spazieren und angeln, erzählte ihm jeden Abend eine Geschichte. Und jetzt… war sie fort… für immer. David würde sie nie mehr wieder sehen. Bei dem Gedanken daran weinte er stundenlang ununterbrochen. Er saß am Fluss und starrte ziellos auf das vorbeiziehende Wasser. Mehrere Male zog er in Betracht, hineinzuspringen und seinem Leben ein Ende zu setzen. Obwohl er nur wenig davon verstand, hatte er doch die schwerste und destruktivste Form von Depression. Sie ließ ihn nicht mehr schlafen, verzehrte sein Herz und seine Seele, um ihn schließlich ins Land der Dunkelheit zu führen.
Zum Glück war er nicht der Typ, der Selbstmord begeht. Er war zu jung, um die Hoffnung aufzugeben. Und auch wenn er es gewollt hätte, wusste er nicht, ob er dafür den Mut aufbrächte. Allerdings gab es noch einen gewichtigeren Grund, warum er sich nicht umbrachte. Seine Schwester würde das nicht verstehen. Gewiss, sie war tot, doch… manchmal fühlte er sie in seinem Innern, und dann war sie lebendig und stark.
Er hatte keine Ahnung, ob er sich dieses Gefühl nur einbildete, achtete es aber trotzdem; es war einfach zu heftig, um ignoriert zu werden. Frühmorgens und spätnachmittags konnte David fast hören, wie seine Schwester zu ihm sprach. Ihr Lachen vermischte sich mit dem Zwitschern der Vögel und ihr Flüstern schwebte im Hauch des Windes. Tief im Herzen fühlte er, dass sie mit ihm kommunizieren wollte. Tagelang versuchte er herauszufinden, was sie dazu trieb, aber die Depression verdunkelte seine Gedanken. Alles in allem brauchte er fast zwei Wochen, um zu erkennen, dass sie ihn im Grunde aufforderte, wieder glücklich zu sein. Glück.
Ja, David wollte wieder glücklich sein. Er sehnte sich nach einem friedlichen und zufriedenen Leben. Seine Schwester hatte es nach dem Tod der Mutter geschafft, ihren Kummer zu überwinden. War er nicht auch dazu fähig?
Er wusste es nicht.
David wünschte sich die Stärke, die seine Schwester vor Jahren gehabt hatte. Ihm war klar, dass er nicht damit rechnen konnte, all das, was ihm widerfahren war, plötzlich zu vergessen. Er würde diese Dinge stets in sich tragen. Doch wo konnte er die Stärke finden, die er brauchte? Und, wichtiger noch: Wie konnte er wieder glücklich werden?
Diese Frage weckte ihn morgens, verfolgte ihn in der Schule und bei den täglichen Hausarbeiten und sie war das Letzte, woran er vor dem Einschlafen dachte.
Wie konnte er wieder glücklich
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