Wokini oder die Suche nach dem verborgen Glück
werden? Das hätte er gerne erfahren. Die Antwort wäre so viel wert wie die kostbarsten Edelsteine der Welt zusammen. Wenn er eine Möglichkeit hätte, wieder glücklich zu sein, würde er wissen, worin der Sinn des Lebens besteht. Darüber hinaus wäre er dann imstande, den Wunsch seiner Schwester zu erfüllen. Aber… konnte er der Antwort allein auf die Spur kommen?
Er betrachtete sich als klug, doch dafür war er nicht klug genug. Nein, ihm war bewusst, dass die Antwort von anderswoher kommen musste.
Oder von einem anderen Menschen.
Aber wer wusste eine Antwort darauf? Vielleicht sollte ich mit mei nem ate sprechen. (David nannte seinen Vater immer ate – ausgesprochen »ah-tey« – , benutzte also den entsprechenden Begriff aus dem Lakota.) Er weiß bestimmt, was zu tun ist.
Wie alle Jungen empfand David seinen ate als einen ganz besonderen Menschen. Mit seinen breiten, von lebenslanger Arbeit gestählten Schultern schien er seinen Sohn um ein Vielfaches zu überragen. Er war ein Mann, der den Kopf hoch trug, sich selbst ebenso respektierte wie alle anderen Lebewesen. In seinen Bewegungen lagen eine große Würde und eine behutsame Stärke, die David zu verstehen trachtete. Wo hatte er sich das angeeignet? Sein ate hatte keine offizielle Ausbildung genossen, nie mit den Stammesältesten studiert und erst nach dem zwanzigsten Lebensjahr lesen gelernt. Sagte sein Vater die Wahrheit, wenn er behauptete, sein gesamtes Wissen von den funkelnden Sternen und den schmelzenden Strahlen der Sonne erworben zu haben? Oder fand er seinen Seelenfrieden in jenem Hain, wo er oft alleine saß und seinen Gedanken nachhing? Vernahm er in den Winden der Ebenen tatsächlich die Stimmen seiner Ahnen?
David wusste es nicht.
Dennoch war da etwas jenseits jeder Einsicht, das ihm in Gegenwart seines ate Ehrfurcht einflößte. Kurzum: Davids Vater war glücklich, und dabei handelte es sich um eine Art von Glück, die David nicht kannte – um eine hellsichtige Selbsterkenntnis, eine bejahende Einstellung und eine tiefinnere Liebe, die er in jedem Augenblick ausstrahlte. Es spielte keine Rolle, ob er gerade eine angenehme Erfahrung machte und wie die anderen Leute ihn behandelten. Offenbar ließ er sich durch nichts unterkriegen.
Außerdem nahm sein Vater die Welt auf besondere Weise wahr und schätzte gerade auch die kleinen Dinge. Er lächelte, wenn er die Vögel früh am Morgen singen hörte; er lachte über die Probleme, mit denen er konfrontiert war. Er liebte das Leben, wie alle Menschen es lieben sollten, und genoss es in vollen Zügen. David sehnte sich danach, so zu sein wie er. David wartete bis zum Einbruch der Nacht, um mit seinem ate zu sprechen. Sie saßen im großen Zimmer – die beiden anderen dienten der Familie als Schlafzimmer. Es war sauber, wenngleich ein wenig in Unordnung; 15 Personen in einem Haus mit zwei Schlafzimmern verursachen eben ab und zu ein Durcheinander. Es würde nie in der Zeitschrift Better Homes and Gardens abgebildet werden, aber es war sein Zuhause, das ihn mit Stolz erfüllte. Die einzige Lampe des Zimmers befand sich hinter dem Radio, aus dem leise die Melodien von Tommy Dorsey drangen. Sein Vater saß im Sessel und blätterte im Reader’s Digest. Seine jüngeren Brüder und Schwestern lagen schon im Bett, und seine älteren Geschwister waren kurz nach draußen gegangen.
Mit leiser Stimme sagte David: »Ate, ich möchte wieder glücklich sein, und du sollst mir dabei helfen. Emmas Tod betrübt mich zutiefst. Er raubt mir den Schlaf, und ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren.«
Der Vater schaute ihn einen Moment lang aufmerksam an und nickte dann verständnisvoll. Er lächelte, wobei die Mundwinkel leicht nach oben gingen. David ist so schnell groß geworden, dachte er. Jetzt ist es Zeit, dass er lernt.
Der Vater legte das Magazin auf den kleinen Tisch und erhob sich. Er ging zu dem alten, abgewetzten Schreibtisch in der Ecke. Sein Rücken schmerzte von der Arbeit des Tages, aber er wusste, dass dieser Schmerz nichts war im Vergleich zu dem, was er seinem Sohn aufbürden würde. Er zog eine Schublade heraus, durchstöberte sie und entnahm ihr ein zerschlissenes Stück Stoff, mnihuha, das sorgsam zusammengerollt war. David kannte diese Schriftrolle ein wenig, obwohl ihm, wie er glaubte, nie erlaubt gewesen war, sie zu studieren. In der indianischen Tradition verwurzelt, war sie von seinem Ururgroßvater, einem Medizinmann, bemalt worden. Sie stellte Wo kahnigapi Oiglake dar, die
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