Wokini oder die Suche nach dem verborgen Glück
und bange. Plötzlich jedoch erschien ihm in der Ferne seine Schwester. Zunächst war sie nicht mehr als ein Lichtpunkt; dann rückte sie näher, bis sie ihm leuchtend gegenüberstand. Es war ein tiefweißes Leuchten, das nicht Gefahr, sondern Stärke signalisierte. David fühlte sie wieder leben, sie atmete und ihr Herz schlug. Seine Schwester redete mit ihm. Er konnte sie zwar nicht hören, spürte aber die Worte in seinem Innern. Sie forderte ihn auf, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Er würde das Wissen, nach dem er suchte, tatsächlich auch finden, wenn er nur standhaft bliebe. Dann war sie verschwunden.
Davids Welt kehrte mit der gleichen Intensität zu ihm zurück, die er kurz zuvor in der anderen Welt empfunden hatte. Er glaubte, in Ohnmacht zu fallen, sobald die Vision verblasste. Er schloss die Augen, kam wieder ins Gleichgewicht und hörte Ben zu. Der beantwortete Davids vorherige Frage, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Hatte sich all das tatsächlich ereignet – oder nur im Traum?
»Diesen Menschen musst du allein finden. Dabei kann ich dir nicht helfen.« Ben gab David die Rolle zurück. »Viel Glück, junger Mann. Ich bewundere dich dafür, dass du die Reise unternimmst. An die meine erinnere ich mich sehr gut. Du wirst eine Menge lernen – und das Geheimnis des Lebens selbst erfahren.«
Als David das Museum verließ, war er deprimierter denn je. Er hatte seine Schwester gefühlt und wusste, dass sie über ihn wachte, empfand aber trotzdem eine schreckliche innere Leere. Er atmete zu schnell, hatte Knoten im Magen, und seine Beine zitterten beim Gehen. Es schien, als würde er die Kontrolle verlieren. Die Gedanken aus seiner Vision bemächtigten sich seiner erneut, ließen ihm keine Ruhe, machten ihn schwach und schwindlig. David taumelte zu einem Baum und setzte sich darunter. Als er das Gesicht in die Hände legte, um sich zu beherrschen, schossen ihm die Tränen in die Augen. Er weinte stundenlang, zumindest schien es ihm so. Sein Körper zitterte und eine große Traurigkeit erfüllte sein Herz. Er fühlte sich völlig allein.
Nachdem er seinen Emotionen freien Lauf gelassen hatte, war er müde, aber zugleich gefasster. Er wischte die Tränen ab, schniefte und begann tief durchzuatmen. Etwas später war er fähig, über die Geschehnisse im Museum nachzudenken. Dennoch wusste er nicht, ob sie real oder nur eingebildet waren. Ihm schienen sie real, aber je mehr er überlegte, desto weniger konnte er sie begreifen. Die Vision verdunkelte sich, wurde immer trüber. Es muss ein Traum gewesen sein, folgerte er schließlich.
Doch tief im Herzen erkannte David, dass es kein Traum war. Die einzelnen Details hatte er zwar vergessen, nicht aber den Zweck des Besuchs, den seine Schwester ihm abgestattet hatte. Die Vision wurde zu einem Teil seiner selbst und zeigte ihm, wohin er gehen musste. Jetzt wusste er, wer mit seiner Seele kommunizieren konnte. Tunkasila Paha Sapa. Der Mann in den Hügeln. Der weise Großvater aller Lebewesen. David machte sich auf den Weg nach Paha Sapa, den Black Hills in Süd-Dakota. Paha Sapa nimmt in der indianischen Religion und Legende einen besonderen Platz ein. Es ist der heilige Ort, der definiert wird als das Herz all dessen, was existiert. Die Gewissheit, ein bestimmtes Ziel zu haben, half ihm, den Kummer eine Weile zu vergessen. Er konzentrierte sich auf die Reise nach Paha Sapa, wo er schon viele Male gewesen war. Der Marsch dorthin dauerte zwei Tage, und da er kein Geld hatte, blieb ihm keine andere Wahl, als zu Fuß zu gehen. Er war ohne Proviant, was ihm allerdings nicht weiter Sorgen bereitete. Er wusste, wie man Fische fängt und sich aus der Natur ernährt – falls ihn überhaupt der Hunger überkam. Seit dem Tod seiner Schwester hatte er praktisch keinen Appetit mehr gehabt.
Weder die zwei Tage der Kontemplation noch die Reise selbst konnten David von seinen schwermütigen Gedanken befreien. Nach den ersten paar Stunden übermannte ihn wieder die Einsamkeit. Der Nahrungsmangel und die körperliche Belastung hatten ihn geschwächt und anfällig gemacht für Depressionen. Bald schon war ihm die Reise egal; der Kummer nahm von ihm Besitz, schlug ihn mit Verzweiflung. Zwei Tage lang bewegte er sich wie ein hungriger Wolf, gedankenlos und gleichgültig.
David erreichte Paha Sapa am frühen Nachmittag. Aus der indianischen Überlieferung wusste er, dass der Mann in einer Hütte lebte, etwa eine Meile südlich des River Bend und nahe der
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