Wolfsblut
Herr ausreiten wollte, und Wolfsblut wußte das. Das Pferd stand gesattelt vor der Tür, doch Wolfsblut zögerte. Aber noch tiefer lag etwas in ihm als all die Gesetze, die er gelernt, als all die Bräuche, die ihn geformt hatten, tiefer selbst als die Liebe zum Herrn und als der Wille zum Leben, und als Collie in dem Augenblick des Zauderns ihn zauste und vor ihm herlief, kehrte er um und rannte hinter ihr drein. Der Herr ritt an dem Tag allein aus, und im Walde lief Wolfsblut neben Collie her, wie einst vor vielen Jahren neben seiner Mutter Kische Einauge im stillen Walde des Nordens gelaufen war.
FÜNFTES KAPITEL
Der schlafende Wolf
Um diese Zeit waren die Zeitungen voll von den Taten eines Sträflings, der tollkühn aus dem Gefängnis von San Quentin entsprungen war. Es war ein wilder, mordlustiger Gesell, dem schon die Natur schlimme Gaben verliehen und den die Hand der Umstände nicht besser gemacht hatte. So war er zur menschlichen Bestie geworden, furchtbar wie ein gewaltiges Raubtier.
Die Gefängnisstrafe hatte Jim Hall nicht bessern können; Zwangsjacke, Hunger und Prügel, das war nicht die richtige Behandlung für ihn gewesen. So übel war er von jeher behandelt worden, als er noch ein kleines Bübchen in einem der Winkelgäßchen von San Franzisko gewesen war, wo er weicher Ton war, aus dem man alles mögliche hätte formen können. Im dritten Jahr seiner Haft war in dem Gefängnis ein Wärter, der fast ebenso schlimm wie Jim Hall selber war. Der verleumdete ihn und verfolgte ihn. Allein er trug ein Bund Schlüssel und hatte einen Revolver, Jim Hall hatte nichts als seine nackten Hände und die Zähne, und so geschah es, daß er eines Tages über den Wärter unversehens herfiel und ihn wie ein wildes Tier bearbeitete.
Darauf sperrte man Jim Hall in die Zelle der unverbesserlichen Verbrecher ein. Dort blieb er drei Jahre. Diese Zelle war ganz aus Eisen, die Wände, die Decke und der Fußboden. Nie verließ er sie, nie sah er Himmel und Sonnenschein, lebendig war er in der eisernen Gruft begraben. Kein menschliches Antlitz sah er, mit keinem menschlichen Wesen sprach er; sein Essen wurde ihm hineingeschoben. Manchmal brüllte und schrie er ganze Tage und Nächte lang in seiner Wut gegen die Welt und die Menschen, manchmal verharrte er ganze Wochen und Monate in starrem Schweigen, und in einer Nacht war er entflohen. Man hatte behauptet, daß das eine Unmöglichkeit sei, dennoch war die Zelle leer, nur der Leichnam eines Gefangenenwärters lag darin, und noch zwei Leichen bezeichneten den Weg, den er bis zur Außenmauer eingeschlagen hatte. Die Waffen der Erschlagenen hatte er an sich genommen und war in die Berge entflohen.
Ein hoher Preis wurde auf seinen Kopf gesetzt, und habsüchtige Farmer verfolgten ihn mit Flinten, um mit dem Blutgeld eine Hypothek zu tilgen oder einen Sohn zur Universität zu schicken. Ebenso ergriffen patriotische Bürger die Büchsen, um den bestellten Wächtern des Gesetzes zu helfen, die mit Telephon, Telegraph und Extrazug ihn Tag und Nacht verfolgten.
Manchmal traf man auf ihn, dann gab es einen verzweifelten Kampf, dessen Bericht die ruhigen Bürger am Morgen darauf beim Frühstück lasen. Die Toten und Verwundeten wurden in die nächste Stadt geschafft, ihre Stelle wurde durch neue Leute besetzt. Plötzlich verschwand Jim Hall; man hatte seine Spur verloren. In entlegenen Tälern hatten harmlose Viehzüchter sich über ihre Identität auszuweisen, und einige Male wurden Jim Halls sterbliche Reste in den Bergen von Leuten entdeckt, die das Blutgeld einziehen wollten.
Unterdessen las man in Sierra Vista die Zeitungen weniger aus Neugier als aus Angst. Besonders die Frauen taten das. Richter Scott lachte sie aus und nahm die Sache leicht, hatte aber wenig Grund dazu, denn Jim Hall war im letzten Jahr seines Richteramtes verurteilt worden, und im offenen Gerichtshof hatte dieser vor den Versammelten laut geschworen, daß er sich an dem Richter, der ihn verurteilt hatte, rächen wolle.
Von alledem wußte Wolfsblut nichts. Allein zwischen ihm und Alice, der Gattin des Herrn, schwebte ein Geheimnis. In der Nacht, wenn jedermann in Sierra Vista zu Bett gegangen war, stand sie auf und ließ Wolfsblut ins Haus ein. Da er aber kein Haushund war und nicht im Flur schlafen durfte, so schlüpfte sie an jedem Morgen früh hinab und ließ ihn hinaus, ehe die Familie auf war.
In einer Nacht, als das ganze Haus schlief, erwachte Wolfsblut, lag aber ganz ruhig. Er sog still
Weitere Kostenlose Bücher