Wolfsfieber - Handeland, L: Wolfsfieber
nickte.
„Sie sind sich ganz sicher?“
Wölfe wagten sich definitiv nicht in dicht besiedelte Gebiet e – es sein denn, sie waren völlig von der Rolle.
„Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie doch Jay.“ Er stieß einen Finger in Richtung eines jungen Mannes, der am anderen Ende des Tresens genüsslich einen riesigen Hamburger verdrückte. „Er schafft auf dem Square.“
„Schaffen?“ Ich nahm Jay in Augenschein. Er sah ganz niedlich aus, trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass er auf den Straßenstrich ging.
„Po-li-zei.“
Nun, das ergab schon mehr Sinn.
Ich unterdrückte den Drang, mir vor Entzücken die Hände zu reiben. Ein Streifenpolizist außer Dienst. Was könnte mir gelegener kommen?
Ein Werwolf, der dem Kelly’s einen Besuch abstattete, aber darauf konnte ich nicht warten.
„War da wirklich ein Wolf auf dem Jackson Square?“, erkundigte ich mich.
Officer Jay sah von seinem Teller auf. „Nein.“
Ich wandte mich wieder dem alten Mann zu.
„Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen“, murmelte er.
„Die Leute sehen hier in jeder Nacht eigenartige Dinge“, erklärte Officer Jay.
„Was zum Beispiel?“
Er stand auf und warf ein paar Münzen auf den Tresen. „New Orleans ist die amerikanische Stadt, in der es am häufigsten spukt, und dafür gibt es auch einen guten Grund.“
„Geister?“
„Alkohol, Drogen, laute Musik.“ Er hielt auf die Tür zu. „Das vernebelt den Leuten den Verstand.“
Nachdem ich mich ein paar Augenblicke später ebenfalls verabschiedet hatte, schlenderte ich eine stille, dunkle Seitengasse in Richtung Bourbon Street hinunter. Binnen weniger Minuten überfiel mich das dumpfe Gefühl, nicht allein zu sein.
Möglicherweise hatte ja einer der Geister beschlossen, mir nach Hause zu folgen. Oder vielleicht war es auch nur ein Straßenräuber. Ich sehnte mich fast schon nach der Gelegenheit, irgendeinem Abschaum in den Arsch zu treten, nachdem ich heute so grob behandelt worden war von diese m …
Wem?
Ich blieb stehen und hätte in diesem Moment alles darauf verwettet, dass das, was auch immer hinter mir herschlich, ebenfalls stehen blieb. So viel zum Thema Paranoia.
Ich schaute nach links, nach rechts, nach hinten und entdeckte nichts als finstere Schatten. Ich beschleunigte mein Tempo, und als ich das tat, hörte ich ein Tapp-tapp-tapp wie von Fingernägeln, die auf eine Schreibtischplatte klopfen. Oder von Krallen, die über den Gehsteig klackten.
Jetzt verlor ich wirklich den Verstand.
Heißer Atem strich über meine Oberschenkel, ein Knurren grollte durch die Nacht, und mein Herzschlag setzte aus. Ich hatte Angst, mich umzudrehen, Angst vor dem, was ich sehen oder nicht sehen würde.
Ein Stück vor mir hatte jemand das Hoftor zu einem Privatgrundstückoffengelassen.Ichtäuschtevorvorbeizulaufen,dann schlüpfte ich hindurch.
Etwas flitzte an mir vorbei, etwas Niedriges und Pelziges. Ich war dermaßen fassungslos, dass ich nach vorn stolperte, um besser sehen zu können, und dabei mit dem Zeh in einer Betonritze hängen blieb.
Meine Knie schlugen als Erstes auf, dann meine Hände. Ich wartete, insgeheim damit rechnend, heißen Atem in meinem Gesicht zu fühlen.
Nichts passierte.
Mich an der Mauer abstützend, rappelte ich mich auf die Füße, dann trat ich aus dem Tor. Ein Auto raste vorbei. Der Wind trug Gelächter herbei. Ein Hund bellte, doch der Gehsteig war wie ausgestorben.
Abgesehen von dem Mann, der einen Block entfernt an einem Gebäude lehnte. Hinter ihm funkelten Lichter, hämmerte Musik, tanzten Menschen auf der Straße. Sein Bizeps wölbte sich, als er sich nach vorn beugte, um das Ende seiner Zigarette anzuzünden, das hinter seiner langen dunklen Mähne gerade noch sichtbar war.
Er bog um die nächste Ecke, und ich begann zu rennen. Doch als ich die Bourbon Street schließlich erreichte, war dort nur noch die feiernde Menge.
In dieser Nacht träumte ich, dass jemand auf meinen Balkon kletterte. Ich hatte die Glastüren offen gelassen. Ich hatte gewusst, dass er kommen würde.
Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Raubtiers auf mein Bett zu. Seine Augen waren so blau, dass mir der Atem stockte, noch bevor er seine raue schwielige Hand ausstreckte und mich berührte.
In meinem Traum sah ich ihn, und er war wunderschön. Volle Lippen, scharfe Wangenknochen, lange Wimper n – das Gesicht eines Aristokraten und der Körper eines Arbeiters. Kein Müßiggänger könnte je solch vernarbte Finger, ausgeprägte
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