Wolfstod: Laura Gottberg ermittelt
Altlander war zu erfahren, um dieser Entwicklung zu trauen, war sicher, dass Enzo sich bereits nach einem neuen Partner umschaute, vielleicht schon einen gefunden hatte. Seine Ausflüge nach Florenz und Siena häuften sich in letzter Zeit. Enzo würde sich nicht damit begnügen, einen alternden Schriftsteller zu bekochen und dessen Launen über sich ergehen zu lassen.
Altlander wusste, dass er launisch war und andere verletzte, er stand dazu. Es war Teil seiner Persönlichkeit, nicht nur Pose. Obwohl … das natürlich auch: der sarkastische Weltflüchtige, der gnadenlose Berichterstatter menschlicher Einfalt. Sehr bewusst zielte er auf die Schwachstellen seiner Mitmenschen, konnte seinerseits gut einstecken. Wobei er allerdings selten Ebenbürtige fand.
Vor ein paar Jahren noch hätte er Enzo seine kleine Stadtwohnung in Florenz überlassen und sich von ihm verabschiedet, um wieder auf die Pirsch zu gehen. Doch jetzt hielt er an dem jungen Mann fest wie noch nie zuvor an einem Geliebten, konnte sich kaum vorstellen, ohne ihn zu leben.
Vermutlich lag es am Alter. Seit einiger Zeit hatte er einen regelrechten Widerwillen dagegen, etwas in seiner Umgebung zu verändern. Er verfiel beinahe in Panik, wenn er sich vorstellte, dass er sich an eine neue Haushälterin gewöhnen sollte. Und wer würde für ihn kochen, wenn Enzo ginge? Wer die kleinen Feste organisieren, die er hin und wieder für ausgewählte deutsche und italienische Nachbarn und Kollegen zu geben pflegte? Wer die italienische Bürokratie bändigen, Arzttermine vereinbaren, Reisen planen – nach beinahe sechs Jahren, oder waren es schon sieben?
Draußen brach inzwischen die Nacht herein. Enzos Gestalt verschmolz mit der Mauer und dem Stamm einer Zypresse. Einzig das winzige glühende Ende seiner zweiten Zigarette verriet, dass er noch da war. Altlander bewegte sich nicht, stand im Dunkeln am Fenster, hoffte, dass Enzo ihn nicht bemerken würde. Vor wenigen Monaten noch hätte er ihn angesprochen oder wäre zu ihm hinuntergegangen, um gemeinsam mit ihm über die weiten Hügel zu schauen, das magische Leuchten der hereinbrechenden Nacht zu bewundern, gemeinsam zu rauchen.
Vielleicht hätten ihre Schultern sich berührt, beinahe zufällig. Altlander liebte es, Erotik zu zelebrieren, den winzigen Funken zu einer Flamme werden zu lassen, die für kurze Zeit alles verzehrte und auslöschte. Aus diesem Grund hatte Enzo auch nie im Haupthaus gewohnt, sondern immer in einem höchst luxuriösen Appartement im Gästehaus. Über dieses Arrangement hatte es zwischen ihnen nie Streit gegeben. So war Enzo frei, und Altlander konnte seine Eigenheiten leben. Er verabscheute eheähnliche Verhältnisse zwischen Homosexuellen, fühlte sich auf seltsame Weise eher mit seiner Freundin Elsa verheiratet als mit Enzo oder einem der Vorgänger. Mit Elsa sprach er über seine Arbeit und gleichzeitig über ihre.
Elsa Michelangeli war Malerin und fast so alt wie er selbst. Ihre riesigen Landschaftsgemälde zeigten genau die Seite der Toskana, die seinen inneren Bildern entsprach: dunkle Hügel, Erosionswunden, Schlachtfelder der Geschichte. Bei Elsa waren die Sonnenblumen schwarz, die einsamen Häuser auf den Bergkuppen verlassen.
Unten an der Mauer bewegte sich Enzos Schattengestalt. Leises Husten drang zum Fenster herauf, dann knirschte Kies unter leichten Schritten. Enzo ging zum Gästehaus hinüber. Kurz darauf leuchteten die Fenster im ersten Stock auf. Erleichtert trat Altlander einen Schritt zurück, zog den Vorhang zu, knipste die Schreibtischlampe an. Er wunderte sich, dass Enzo an diesem Samstagabend noch zu Hause war. Halb absichtlich streifte seine Hand die Maus des Laptops, der Bildschirm leuchtete auf, zeigte die knappe Seite, die er am Nachmittag geschrieben hatte.
Es ging zu langsam. Er quälte sich mit jedem Satz, jedem Wort, obwohl sein Werk beinahe vollendet war. Karg sollte die Sprache sein, klar wie die Landschaft der Crete oder der karstigen Berge Griechenlands, wo Lord Byron für die Freiheit gekämpft hatte. Und doch gewaltig wie die Stürme des Mittelmeers, die einst den jungen Dichterengel Shelley verschlungen hatten.
Es war Altlanders letzter Versuch, an die Kraft seiner früheren Werke anzuschließen. Das Schreiben bereitete ihm inzwischen körperliche Schmerzen, die eigentlich geistige waren. Mit kleinen Dosen von Lachgas hielt er sie in Grenzen – mit jener Dosis, die ihn in einen leicht euphorischen Zustand versetzte. Dabei kam es auf die genau
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