Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
verstohlenen Blick zu, als versuchte sie, seine Gedanken und Absichten zu erraten.
Sie durchquerten das Wohnzimmer. »Mein Computer befindet sich im Schlafzimmer.« Sie sah ihn entschuldigend an.
»Kein Problem.« Er wusste, sie brauchte eine Bestätigung, dass er nicht auf falsche Gedanken kam.
Sie nickte und ging ihm durch den Raum voran, hinüber zum Schreibtisch. Der Computer war noch ein richtiges Arbeitsgerät. Die Tastatur war uralt und der Bildschirm ein Klotz. Ein abgegriffener Johns-Hopkins-Sticker klebte an der Seite des Monitors.
»Waren Sie dort auf dem College?«, fragte er.
»Auf der Schwesternschule. Der Computer stammt noch aus der Zeit. Er gehörte zu den wenigen Dingen, die ich mitgenommen habe, als ich im April von zu Hause fort bin. Es war mir wichtig, Internet und E-Mail nutzen zu können – und mit einigen Leuten in Verbindung zu bleiben, die mir nahestehen. Meine Mutter zum Beispiel …«
»Warum sind Sie weggegangen?«
»Aus dem gleichen Grund wie Lily. Mara.«
»Das tut mir leid.«
»Danke.« Sie sah ihn an, als spürte sie, dass es keine leere Floskel war. Sollte er ihr sagen, dass sie weder Scham- noch Schuldgefühle haben musste, oder war ihr bereits klar, dass es solche Männer oft auf Frauen abgesehen hatten, die in der Pflege tätig waren? Wie dem auch sei, Patrick hielt nicht viel von Statistiken. Sie waren nicht repräsentativ, ließen Frauen wie Lily außer Acht – er musste versuchen, sich den Namen zu merken, wenn sie ihm den Vorzug gab. Er betrachtete Marisa, die sich nun an ihren Computer setzte, die schmalen Schultern verkrampft und bis zu den Ohren hochgezogen, und er fragte sich, wie lange sie dieser Belastung schon ausgesetzt war.
»Gehen Sie manchmal online? Kennen Sie sich mit dem Internet aus?«, fragte sie.
»Ich bin im Ruhestand«, erwiderte er lächelnd. »Das ist eine der Möglichkeiten, die Zeit totzuschlagen. Angeln, die Spiele der Yankees anhören und Online-Recherchen.«
»Mache ich auch. Recherchieren, meine ich. Als ich beispielsweise erfuhr, dass Rose an Fallotscher Tetralogie leidet, habe ich mich tagelang mit der Website der Schwesternschule beschäftigt.«
»Was für eine Tetralogie?«
»Die Fallotsche. Das ist eine komplizierte, mehrfache Herzinsuffizienz.«
Patrick nickte mit einem flauen Gefühl im Magen. Er sah Lily und ihre Tochter vor sich, wie sie auf der Türschwelle des Gasthofs gestanden waren. Und danach hatte Anne das Werbeplakat wieder aufgestellt – es glich denen, die man überall in den Kleinstädten bei Spendenaktionen zu Gesicht bekam, in Familienrestaurants und chemischen Reinigungen, wenn ein Kind aus der Gemeinde eine teure medizinische Behandlung benötigte. Eine weitere Neuigkeit, die Maeve verkraften musste – ihre Enkelin hatte ein Herzleiden. Patrick musste sich zur Ordnung rufen, weil seine Gedanken zu Maeve abzuschweifen drohten, wo es doch galt, seine ungeteilte Aufmerksamkeit Marisa zuzuwenden.
»Also, es gibt da eine Band, die mir sehr gut gefällt – Spirit«, sagte Marisa.
»Spirit gefällt allen.« Patrick summte ein paar Takte von ›Lonesome Daughter‹ vor sich hin.
»Nicht schlecht.« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft schenkte ihm Marisa ein Lächeln, das von Herzen kam.
»Spielen Sie ihre Musik manchmal auf der Fiddle?«
»So oft ich kann, aber darum geht es mir nicht.«
»Um was dann?«
Sie blickte hinunter auf ihren Computer, und ihr Lächeln verschwand. »Es gibt eine Website für Spirit-Fans. Es ist mir peinlich, es einzugestehen, aber ich besuche sie manchmal – schon seit Jahren. Spirit-Fans haben eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren Idolen. Sie sind gewieft, unbeschwert, haben aber ein ausgeprägtes sozialen Gewissen. Ein Menschenschlag, den ich mag.«
Gewieft, unbeschwert, ausgeprägtes soziales Gewissen. Patrick nickte, hakte die Charaktereigenschaften auf seiner Liste ab. Nun, vielleicht nicht ganz so gewieft. Er ertappte sich bei dem Wunsch, zu dem Menschenschlag zu gehören, die dieser Frau mit den samtbraunen Augen gefielen.
»Abgesehen davon, ist das Forum eine Art Tauschbörse für CDs und Live-Mitschnitte von Konzerten, die nirgendwo sonst verfügbar sind. Ich weiß, dass Sie Polizist sind, und ich mache da auch nicht mit, aber manchmal findet man dort –Raubkopien.«
Patrick nickte und bemühte sich, nicht zu streng auszusehen.
»Also, neulich habe ich die Beiträge im Forum gelesen und festgestellt, dass da ein Betrüger am Werk war.«
»Ein Betrüger?«
»Er
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