World's End
war, sah ehrfürchtig zu, wie ihr Vater die Wildpastete anging, sich mit einem Brotkanten den Fisch hineinschaufelte, den Eintopf restlos auskratzte. Er saß fast zwei Stunden lang am Tisch, und während der ganzen Zeit kam ihm kein einziges Wort über die Lippen, bis auf hin und wieder gemurmelte Forderungen nach Wasser, Apfelwein oder Brot.
Am nächsten Morgen war es nicht anders. Wie gewöhnlich stand er mit dem ersten Sonnenstrahl auf, aber anstatt sich einen Brotlaib vom Tisch zu nehmen und mit Axt oder Pflug auf die Felder zu streben, lungerte er in der Küche herum. »Was ist denn los, Harmanus?« fragte Agatha, in deren Stimme sich nun eine Spur von Besorgnis mischte.
Er saß an dem schlichten Holztisch, die großen Hände vor sich gefaltet, und sah zu ihr auf. Einen Augenblick lang meinte sie, einem Fremden in die Augen zu blicken. »Ich habe Hunger«, sagte er.
Sie wischte die Dielen auf, ihre Ellenbogen hüpften wie Mäuse auf und ab. »Soll ich dir ein paar Eier braten?«
Er nickte. »Und Fleisch.«
Im selben Moment kam Katrinchee mit einem Eimer frischer Milch durch die Tür. Harmanus stieß beinahe den Tisch um. »Milch!« sagte er, als stellte er die Assoziation zwischen Wort und Ding zum erstenmal her; seine Stimme war klanglos, tot und ohne Ausdruck, die Stimme eines Phantoms. Er riß ihr den Eimer aus der Hand, hob ihn an die Lippen und trank ihn völlig leer, ohne abzusetzen. Dann warf er ihn zu Boden, rülpste und ließ den Blick im Raum schweifen, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. »Eier«, wiederholte er. »Fleisch.«
Mittlerweile war die ganze Familie in Schrecken versetzt. Jeremias sah kreidebleich zu, wie sein Vater sich quer durch die Speisekammer fraß, Störe aus der Räucherkammer zerrte, zwei Hühner für den Kochtopf rupfte. Katrinchee und Agatha hetzten durch die Küche, schnitten, kneteten, brieten und buken. Wouter mußte Holz holen, aus dem Kessel stieg Dampf auf. An diesem Tag wurde auf den Feldern nicht gearbeitet. Harmanus aß bis in den frühen Nachmittag, er aß, bis er den Garten geplündert, den Keller ausgeräumt, das Leben des Stallviehs bedroht hatte. Sein Hemd war bunt gemustert mit Fettflecken, Eidotter, Soße und Apfelwein. Er wirkte trunken, wie einer der geneverseligen Bettler in der Amsterdamer Heerengracht. Dann stand er plötzlich auf, wankte vom Tisch wie ein weidwundes Tier und sank auf eine Strohmatte in der Ecke nieder; er war eingeschlafen, ehe er am Boden war.
Die Küche war verwüstet, die Töpfe geschwärzt; Speisereste befleckten die Dielen, den Tisch, den steinernen Herd. Die Räucherkammer war leer – kein Wild, kein Stör, kein Kaninchen oder Truthahn mehr –, und Getreide und Gewürze, die sie von den van der Meulens eingetauscht hatten, waren ebenfalls dahin. Es war, als hätte Agatha das ganze Dorf Schobbejacken bekocht, bei einem Hochzeitsessen von mehrtägiger Dauer. Erschöpft sank sie auf einen Stuhl und begrub den Kopf in den Händen.
»Was ist bloß mit vader los?« fragte Wouter. Neben ihm stand Jeremias. Beide blickten verängstigt drein.
Agatha starrte sie hilflos an. Sie hatte selbst kaum Zeit gehabt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ja, was war nur mit ihm los? Sie erinnerte sich an einen ähnlichen Fall aus ihrer Kindheit in Twistzoekeren. Eines Tages hatte Dries Herpetz, der Bäcker des Dorfes, verkündet, Kirschtörtchen seien die ideale Nahrung und er wolle bis an sein Lebensende nichts anderes mehr essen. Aber Suppe, wenigstens Suppe braucht man doch, sagten die Leute. Milch, Grünkohl, Fleisch. Er aber reckte die Nase verächtlich in die Luft, als wären sie eine Horde von Sündern, Teufel, die ihn in Versuchung führen wollten. Ein Jahr lang aß er nichts als Kirschtörtchen. Er wurde fett, unförmig, ging auf wie frischer Teig. Er verlor alle Haare, die Zähne fielen ihm aus. Ein bißchen Fisch nur, flehte seine Frau. Eine schöne braadworst. Käse? Weintrauben? Waffeln? Lachs? Er winkte ab. Sie verbrachte alle Tage mit dem Zubereiten fabelhafter Gerichte, durchkämmte die Märkte nach exotischen Früchten, Speisen aus Arabien und dem Orient, nach Schnecken, Trüffeln, den geschwollenen Lebern von gestopften Gänsen, doch mit nichts ließ er sich locken. Schließlich, nachdem sie sich fünf Jahre lang abgemüht hatte, fiel sie vor Erschöpfung tot um, mit dem Gesicht nach vorn in eine Kasserolle mit Kartoffelauflauf. Dries blieb unberührt. Zahnlos, fett wie ein Schwein, wurde er achtzig Jahre alt, saß vor
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