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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schlang sie ihm ein Halfter um den Hals und geleitete ihn heim wie ein verirrtes Kalb. Es dämmerte schon fast, als sie das Blockhaus erreichten. Agatha führte ihren Mann durch die Tür, vor den Augen der stumm zusehenden Söhne, und bettete ihn auf die Strohmatte wie eine Leiche. Dann fesselte sie ihm die Füße. »Katrinchee«, schluckte sie, ihre Stimme war festgezurrt wie der verknotete Strick. »Geh und hol Mohonk.«
    Da sie in so großer Entfernung von den Zentren der Bildung und der Quacksalberei lebten und da der einzige Arzt in Nieuw Amsterdam damals ein einäugiger Wallone namens Huysterkarkus war, der auf der Insel Manhattoes wohnte, etwa sechs Stunden Bootsfahrt entfernt, konnte Agatha nicht auf die gängigen Methoden der Diagnose und Therapie zurückgreifen. Wären die großen Ärzte aus Utrecht oder Padua allerdings dagewesen, hätten sie wohl auch nicht viel mehr vorzuschlagen gewußt als Aderlaß, Gebet und Mixturen von ausgerissenen Achselhaaren in einem Glas Chinarindenwein oder im Menstruationsblut von Haselmäusen eingeweichtem Kuhmist. Aber die großen Mediziner waren nicht zugegen – es sollte noch fünf oder sechs Jahre dauern, bis Nipperhausen seinen ersten Atemzug tat, und das in der Pfalz –, daher waren die Kolonisten gewohnt, in Extremsituationen auf die Künste und Exorzismen der Kitchawanken, Canarsees und Wappinger zu vertrauen. Deshalb Mohonk.
    Eine halbe Stunde später trat Katrinchee durch die Tür, dicht gefolgt von Sachoes’ jüngstem Sohn. Mohonk war zweiundzwanzig, süchtig nach Gewürzbowle, Genever und Tabak, reichte bis zum Dach und war dürr wie ein Storch. Unter der Tür gebückt, umsäumt von seinem struppigen Waschbärmantel, sah er aus wie eine reife Löwenzahnblume. »Ah«, sagte er und ging sein gesamtes holländisches Vokabular durch: »Alstublieft, dank U, niet te danken.« Er schlurfte näher, von schwerem Waschbärenduft umwölkt, und beugte sich über den Patienten.
    Harmanus starrte zu ihm auf wie ein gescholtenes Kind, höchst gefügig und zerknirscht. Seine Stimme war kaum zu hören. »Kuchen!« stöhnte er.
    Mohonk blickte Agatha an. »Zuviel essen«, sagte sie und stellte es pantomimisch dar. »Eten. Te veel.«
    Der Kitchawanke schien verwirrt. »Eten?« wiederholte er. Doch als Agatha nach einem Holzlöffel griff und ihn sich heftig gegen den Mund zu stoßen begann, hellte sich die Miene des Indianers erst auf und verdüsterte sich dann zusehends. Er sprang von Harmanus zurück, als wäre er gebissen worden, und seine langen, kupferfarbenen Hände faßten unsicher nach dem Gürtel seines Mantels.
    Agatha stieß ein Keuchen aus, Klein Wouter fing an zu greinen, Jeremias starrte auf seine Fußspitzen. Der Indianer wich zur Tür zurück, als Katrinchee einen Schritt nach vorne machte und ihn am Arm packte. »Was ist?« fragte sie. »Was ist los mit ihm?« Sie redete in der Sprache seiner Vorfahren, in der Sprache, die er sie über die Rücken der Kühe hinweg gelehrt hatte. Doch er antwortete nicht – er leckte sich nur über die Lippen und zog den Mantel fester um sich, obwohl es schon fünfunddreißig Grad hatte und ständig heißer wurde. »Meine Mutter«, sagte er schließlich. »Ich muß meine Mutter holen.«
    Die Vögel hatten sich in den Bäumen niedergelassen, und die Moskitos waren in voller Macht und Zahl aus den Sümpfen aufgestiegen, als er mit einer verschrumpelten alten Squaw in schmutzigen Leggins und Schürze zurückkehrte. Vertrocknet wie ein vergessener Maiskolben, tief gebückt und wacklig, ein Gesicht wie eine Senkgrube, sah sie aus, als hätte man sie frisch aus einem Torfmoor ausgegraben oder in den Katakomben vom Haken genommen. Als sie sechs Jahre alt und geschmeidig wie ein Salamander gewesen war, hatte sie mit dem Rest ihres Stammes bis zur Hüfte im Fluß gestanden und zugesehen, wie die Half Moon gegen die Strömung ankämpfte. Das Schiff war ein Wunder gewesen, eine Vision, ein Zeichen der stummen Götter, die die Berge aufgefaltet hatten, um ihr Treiben vor den Augen der Sterblichen zu verbergen. Manche sagten, es sei ein Geschenk von Manitou, ein großer weißer Vogel, der gekommen war, ihre Leben zu heiligen; andere, weniger zuversichtliche Mitmenschen identifizierten es als Teufelsfisch, der gekommen war, um sie alle auszulöschen. Seit damals hatte sie miterlebt, wie ihr Mann von Jan Pieterse und Oloffe Van Wart ausgetrickst, ihre Tochter geschlachtet, ihr jüngster Sohn vom Schnaps verblödet und ein Drittel ihres Stammes

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