Worte bewegen die Welt
HOMER
DER BLINDE SÄNGER
Die Geschichte der europäischen Literatur beginnt mit den beiden Homer zugeschriebenen Epen »Ilias« und »Odyssee«. Bis heute ist die Person des Dichters ein großes Rätsel geblieben. Auch in der Antike, für die er eine der herausragenden Gestalten war, kam man über Spekulationen nicht hinaus. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die beiden »homerischen« Epen aber von zwei unterschiedlichen Autoren verfasst worden
.
8. Jh. v. Chr.
Geburt im ionischen Kleinasien
2. Hälfte des 8. Jh. v. Chr.
vermutlich Gestaltung der unter seinem Namen überlieferten Epen »Ilias« und »Odyssee«
8. Jh. v. Chr.
Tod im ionischen Kleinasien
Die Anfangszeilen der »Ilias« oder der »Odyssee« auswendig, am besten im Original, zitieren zu können galt in Europa über Jahrhunderte hinweg als Ausweis einer gediegenen humanistischen Bildung. Noch präsenter waren die Verse jedoch den Menschen der Antike selbst. Bei den Griechen gehörte es zur selbstverständlichen Ausbildung junger Leute aus der Oberschicht, sich intensiv mit der Geschichte vom Untergang Trojas und den sich anschließenden Irrfahrten des griechischen Helden Odysseus zu befassen. In Athen waren seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. Rezitationen aus den beiden Werken Bestandteil des offiziellen Programms im Rahmen der Feierlichkeiten des wichtigsten Stadtfestes. Die besten unter den professionellen Vortragskünstlern waren dabei in der Lage, fast alle Partien aus dem Gedächtnis zu rezitieren. Das war eine höchst bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass die »Ilias« immerhin 15 693, die »Odyssee« 12 109 Verse umfasst. Die ungebrochene Beliebtheit des Stoffes der beiden Epen geht auch daraus hervor, dass Szenen und Motive aus »Ilias« und »Odyssee« über die ganze Antike hinweg zum Standardrepertoire von Vasenmalern und anderen Künstlern gehörten.
Als später die Römer die griechische Kultur kennen lernten, ließen sie sich von der Begeisterung der Hellenen für die Erzählungen von Troja und von Odysseus anstecken. Inzwischen lagen auch kompetente, von führenden Gelehrten herausgegebene Textausgaben der beiden Werke vor. Insbesondere waren es Wissenschaftler aus Alexandria, die sich im 3. Jahrhundert v. Chr. in der dortigen berühmten Bibliothek um eine einheitliche Version der Epen kümmerten. Bis dahin waren viele, in einzelnen Passagen recht unterschiedliche Ausgaben im Umlauf gewesen. Mithilfe einer nun gesicherteren Textgrundlage wurden dann auch die Römer zu eifrigen Lesern der beiden Werke. Zum guten Ton gehörte es, zur rechten Zeit das rechte Zitat aus der »Ilias« oder »Odyssee« zur Hand zu haben. In der Zeit des Kaisers Augustus schuf der Dichter Vergil mit der »Aeneis« das römische Nationalepos. Bemerkenswert war dabei nicht nur die in diesem Werk behauptete trojanische Abstammung der Römer. Vielmehr gestaltete der Schriftsteller die Irrfahrten seines Helden Aeneas ganz nach dem Muster der Reisen des Odysseus.
INHALT DER EPEN
Die »Ilias« handelt von der letzten Phase des insgesamt zehn Jahre dauernden Krieges um die Stadt Troja. Längst nicht der ganze Krieg, den die Griechen gegen König Priamos von Troja geführt und letztlich siegreich bestanden haben, steht im Zentrum des Werkes, sondern der Zorn des beleidigten griechischen Helden Achilles, der sich von König Agamemnon um seine Beute betrogen sieht und in einen Kampfstreik tritt. Die Handlung gipfelt im Duell des am Ende wieder einsatzbereiten Achilles mit dem Trojaner Hektor.
Der Stoff der »Odyssee« umspannt einen wesentlich längeren Zeitraum. Aus der Rückschau berichtet Odysseus von den Irrfahrten, die er nach dem Fall von Troja auf der Rückfahrt nach Ithaka erlebt hat und die ihn zehn Jahre lang von der Heimat fernhielten. Missgünstige Götter, unheimliche Wesen und andere Fabelgestalten lenken den Helden immer wieder in die falsche Richtung. Nach dem Verlust aller Gefährten landet Odysseus schließlich auf der sagenumwobenen Insel der Phäaken, die ihm die Heimkehr nach Ithaka ermöglichen. Dort nimmt er grausame Rache an seinen Konkurrenten, die ihm die Herrschaft über Ithaka hatten entreißen wollen und hartnäkkig um die Gunst seiner Ehefrau Penelope geworben hatten.
DIE SUCHE NACH DEM AUTOR
Bei der außerordentlichen Beliebtheit von »Ilias« und »Odyssee« kann es nicht verwundern, dass auch die Person des Verfassers dieser berühmten Werke immer im Zentrum des öffentlichen Interesses stand. Doch mit dem Aufwerfen der
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