Worte bewegen die Welt
Homer andererseits schon fest mit Smyrna verbunden wurde, setzte man eine weitere Geschichte in die Welt, in der auch Ios wieder zu seinem Recht auf Homer kam. Demnach soll Homers Mutter, Kritheis, eine junge Frau aus Ios gewesen sein, die von einem Dämon verführt wurde, daraufhin aus Scham die Heimat verließ, in Aegina von Seeräubern entführt wurde, die sie nach Smyrna brachten, wo sie am Fluss Meles Homer gebar. Der lydische König Maion soll sie zur Frau genommen und ihren Sohn wie ein Vater aufgezogen haben. Alternativ ist es in den Legenden Phemios, ein Schullehrer aus Smyrna gewesen, der die Erziehung des Sohnes übernommen habe.
Nach dem gleichen fiktiven Muster wurde auch das weitere Leben Homers rekonstruiert. Zu den Homer zugeschriebenen Attributen gehörte die Blindheit. Keine Einigkeit hingegen bestand darin, ob er von Geburt an nicht sehen konnte oder ob sich dieses Gebrechen erst im Lauf seines Lebens eingestellte. In Wirklichkeit dürfte diese Legende vom blinden Sänger entstanden sein, weil man damit die Vorstellung von einer besonderen Form des inneren Sehens und von göttlich inspirierter Weisheit verbinden konnte. Außerdem wollen bemerkenswert viele Quellen wissen, dass er arm gewesen sei. Er sei nicht dazu in der Lage gewesen, seine Tochter mit einer ordentlichen Mitgift auszustatten. Seine Mittel hätten nicht einmal dazu ausgereicht, einen Hund zu ernähren. Ein anderer Autor hatte in diesem Zusammenhang jedoch einen bedenkenswerten Einwand: Wie habe der Dichter in seinen Epen so genau üppige Mahlzeiten und Gelage beschreiben können, wenn er nicht selbst ein reicher Schlemmer gewesen sei?
Aus seinen Epen, vor allem aus der »Odyssee« lasen wiederum andere antike Schriftsteller heraus, dass Homer viele Reisen unternommen haben muss, da er sich so genau in der Mittelmeerwelt auskannte. Man brachte Homer, den Protagonisten der griechischen Literatur, sogar mit dem um 700 v. Chr. lebenden Dichter Hesiod zusammen. In Chalkis soll Homer sich auf einen musischen Wettstreit mit seinem aus Böotien stammenden Kollegen eingelassen haben. Nachdem beide aus ihren Werken gelesen hätten, habe man Hesiod zum Sieger erklärt, mit der Begründung, seine Bücher seien weniger kriegerisch als die des Rivalen.
Die moderne Homer-Forschung hat die meisten dieser Geschichten als Fabeln deklariert. Tatsächlich zeigen sie in ihrer Vielfalt, aber auch in ihrer Widersprüchlichkeit, wie wenig man in der Antike wirklich über Homer wusste. So behalf man sich mit fantasievollen Erfindungen und Legenden. An der Existenz eines Dichters mit diesem Namen, aus dessen Feder die großen Epen »Ilias« und »Odyssee« und dazu noch einige, als »Homerische Hymnen« bezeichnete Schriften stammten, hat allerdings niemand gezweifelt. Die beiden griechischen Historiker Herodot und Thukydides sprechen von Homer als einer ganz realen Gestalt. Herodot hat sogar den Versuch einer zeitlichen Einordnung unternommen. »Hesiod und Homer«, so sagt er, »haben meiner Meinung nach etwa 400 Jahre vor mir gelebt, aber nicht mehr.« Da Herodot ins 5. Jahrhundert v. Chr. gehört, wäre die Lebenszeit Homers demnach ins 9. Jahrhundert v. Chr. gefallen.
DIE HOMERIDEN
In die Gestaltung der Homer-Legende griffen auch die Bewohner der Insel Chios ein. Sie warben wie einige andere Orte um die Ehre, Heimat des Dichters zu sein. Hier gab es eine Gilde von so genannten Rhapsoden, also berufsmäßigen Sängern und Rezitatoren, die sich »Homeriden« nannten und auf Chios schulmäßig die epische Dichtkunst pflegten. Vielleicht aus ihrem Umfeld stammte die Version, Homer habe auf Chios geheiratet. Aus der Ehe mit einer gelegentlich Arsiphone genannten Frau seien zwei Töchter hervorgegangen, von denen die eine unverheiratet gestorben sei, während die andere einen Mann aus Chios zum Gatten genommen habe.
HOMER IN DER MODERNEN FORSCHUNG
Die moderne Wissenschaft ist in dieser Hinsicht skeptischer. Manche Forscher sind tatsächlich so weit gegangen, das Vorhandensein eines Dichters namens Homer als historisch realer Figur zu verneinen. Diese Gestalt sei erfunden worden, um die großen Epen mit dem Namen eines Verfassers verbinden zu können. Gleichwohl geben sie zu, dass es das »Urbild« eines Dichters gegeben haben müsse, der später zu »Homer« stilisiert worden sei. Andere Historiker sind bereit, an einen »Homer« zu glauben.
Sicher scheint aber zu sein, dass die »Ilias« und die »Odyssee« nicht aus der Hand ein und desselben Autors
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