Worte der weißen Königin
schlüpfte ich leise durch das angelehnte Eisengittertor. Dahinter lag eine andere Welt.
Nein, leider ist das gelogen. Es war der gleiche alte Friedhof, den man schon durch das Gitter gesehen hatte. Tannengrün bedeckte die Gräber, damit die Blumen nicht erfroren, und irgendwoganz hinten goss ein sehr alter Mann ein Grab mit einer Gießkanne. Vielleicht lag seine tote Frau darin. Vielleicht dachte er, wenn er sie nur regelmäßig gießt, wächst sie wieder neu.
Ich ging den schmalen Steinplattenweg zwischen den Gräbern entlang. Er war elf Schritte lang, und an seinem Ende gab es eine weitere angelehnte Tür. Das war die Tür zur Kirche.
Von drinnen hörte ich Stimmen. Die Stimmen gehörten Kindern, und sie redeten alle durcheinander. Dann waren sie still, und es gab nur noch eine Stimme: eine erwachsene Stimme. Diese Stimme las eine Geschichte vor.
Ich hatte oft Erwachsenen zugehört, die Geschichten vorlasen, im Kindergarten. Sie lasen Sätze vor, und die Sätze gaben einen Sinn, und das war in Ordnung so. Doch die Stimme hinter dieser Tür las Worte, und die Worte gaben einen Klang, und ich stand ganz still, um keines zu verpassen. Es war wie Musik. Es war wunderbar. Ich verstand nicht alles, was dort drinnen gelesen wurde, manche Worte waren schwierig und sperrig und viele hatte ich noch nie gehört. Aber ihr Klang floss in mich hinein wie Wasser. Ich verstand, dass es eine Geschichte über jemanden war, der eine Geschichte durch eine Tür hört. Genau wie ich. Ist das nicht merkwürdig? In der Geschichte war es ein Mädchen, und sie vergaß alles wieder, was sie gehört hatte. Sie behielt nur einen Satz: Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall. Ich dachte, dass ich diesen Satz ebenfalls behalten wollte.
Er war wie ein Zauberspruch.
»Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall«, sagte ichvor mich hin, immer und immer wieder, und so bekam ich nicht mit, wie die Geschichte weiterging. Was das Mädchen mit dem Satz machte und wohin es ihn mitnahm. Aber das Mädchen war unwichtig.
Als die Stimme schwieg, stieß ich die Kirchentür vorsichtig auf und betrat den dämmrigen Raum dahinter.
»Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall«, murmelte ich und ging zwischen den Bänken hindurch. Ganz vorn, vor dem Altar, standen Klappstühle, und darauf saßen Kinder. Ungefähr sieben Kinder. Die meisten kannte ich vom Sehen, sie waren aus Wehrland oder aus einem der anderen Dörfer. Zwischen ihnen jedoch saß jemand, den ich noch nie gesehen hatte: Es war eine alte Dame in einem dicken roten Wintermantel.
Keine Frau, eine Dame. Sie saß ganz aufrecht. An den Händen trug sie altmodische schwarze Handschuhe aus feiner Wolle, und das weiße Haar hatte sie hinten mit einer Silberspange zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie saß da wie eine Königin, und in der Hand hielt sie ein Buch wie ein Zepter. Versteht mich nicht falsch: Sie wirkte nicht hochnäsig oder herablassend, sondern auf eine ganz andere, unerklärliche Weise königlich. Sie sprach jetzt mit den Kindern, alle redeten wieder durcheinander, und die Königin lachte. Ihr Gesicht war voller Lachfalten.
Als ich durch den ganzen Mittelgang gegangen und vorn angekommen war, sah die Königin auf und blickte mich an.
»Ich … oh … ich …«, stotterte ich. Ich wusste ja nicht, ob ich hier sein durfte. Ein paar andere Kinder drehten sich um.
»Das ist Lion«, sagte ein Mädchen. »Seine Mutter ist weggelaufen, und sein Vater verkauft Hasen.«
»Tote Hasen«, sagte ein Junge. »Von den Feldern. Ohne Fell. Obwohl er das gar nicht darf, weil er kein richtiger Jäger ist.«
Ich sah zu Boden. Bestimmt würde die Königin jetzt ärgerlich werden.
»Hasen?«, fragte sie, so als hänge ihr Kopf noch in der Geschichte von der Linde und sie habe vorübergehend vergessen, was Hasen sind. Aber dann fiel es ihr wohl wieder ein, denn sie nickte. »Aah so, Hasen«, sagte sie zu mir. »Ja, leider bist du zu spät gekommen. Für heute sind wir fertig mit Vorlesen. Vielleicht kommst du nächste Woche früher?«
»Früher«, wiederholte ich. »Nächste Woche.«
»Wir fangen immer um vier an«, sagte die Königin. »Jeden Samstag.«
Sie lächelte mich an, und da wusste ich, dass ihr die Hasen egal waren. Sie fragte auch nicht, was für einen komischen Namen ich da hatte. Stattdessen stand sie auf und half, die Stühle zusammenzuklappen und an die Wand zu stellen, und dann gingen wir alle zusammen hinaus in den Nochwinternachmittag.
Aber plötzlich war es ein
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