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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Schonfrühlingsnachmittag. Plötzlich schien die Luft milder. Ich hörte die erste Meise hoch in einem Baum singen.
    Am Tor verabschiedete sich die Königin von jedem einzeln – außer von der Meise.
    »Auf Wiedersehen, Lion«, sagte sie, und als sie meinen Namen aussprach, da klang er so wunderbar wie der Satz aus derGeschichte. Er klang, als müsste genau ich genau so heißen und als wäre auch meine Geschichte eine, die in einem Buch stünde. »Auf Wiedersehen, Lion. Bis nächsten Samstag.«
    »Bis hmsten mstag«, nuschelte ich verlegen. Dann drehte ich mich um und rannte über den Matschweg zu dem abblätternden gelben Metallzaun.
    Mein Vater stand schon dort und wartete, über der Schulter den leeren, hasenlosen Rucksack. Als ich bei ihm ankam, fuhr er mir mit seiner großen Hand durchs Haar.
    »Ich … ich war in der Kirche«, erzählte ich atemlos, »jemand liest dort Geschichten vor, jeden Samstag, um vier Uhr, und alle anderen sind auch da, die anderen Kinder, und …« Ich verstummte.
    »So, Geschichten«, sagte mein Vater. Mehr nicht.
    Ich sah, wie er die Königin ansah. Er sah natürlich nur eine alte Dame. Sie nickte einen Gruß und stieg in ein Auto, das vor der Kirche parkte. Es war ein großes, blank geputztes Auto. Ein Königsauto. Mein Vater sah dem Auto nach.
    »Ein schönes Auto«, sagte ich.
    Er nickte. »Ja, wer so ein Auto fährt, kann es sich wohl leisten, in der Kirche zu sitzen und Geschichten zu lesen«, sagte er, und dann sagte er den ganzen Heimweg über nichts mehr. Aber ich spürte, dass die unsichtbare Hecke zwischen uns ein wenig dichter geworden war.
    Die ganze Woche über sagte ich die Worte vor mich hin, die ich aus der Kirche mitgenommen hatte: Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall .
    Und tatsächlich sprangen in dieser Woche die Knospen der Linden in den Alleen auf und wurden zu winzigen hellgrünen Blättern.
    Am Samstag ging ich um zwei Uhr los. Ich ging den ganzen Weg nach Wehrland zu Fuß, allein. Ich hatte meinen Vater nicht gefragt, ob er mitkommen wolle. Ich hatte so ein Gefühl, dass er nicht wollte. Zwischen den Buchenwurzeln blühten jetzt kleine gelbe Sterne. In den Gärten, an denen ich vorbeikam, standen am Rand der Gemüsebeete Narzissen und Tulpen, blaue Perlhyazinthen und violette Krokusse, und die ganze Welt war wie ein Märchen.
    Als ich durch den Wald ging, raschelte es neben mir, und etwas huschte durchs Gebüsch und verschwand.
    »Hallo, Reh«, sagte ich laut. »Hallo, Hase. Ich bin es nur. Ich bin nicht mein Vater, habt keine Angst. Ich habe kein Gewehr.«
    Doch ich war mir ziemlich sicher, dass der Schatten weder einem Reh noch einem Hasen gehört hatte. Es war der Schatten eines Kindes gewesen, ungefähr so groß wie ich. Mir war etwas unheimlich zumute, und ich beeilte mich, den Wald hinter mir zu lassen.
    Ich bemühte mich, den Schatten im Wald zu vergessen. Ich bemühte mich so sehr, dass ich einmal falsch abbog, und so musste ich einen großen Umweg gehen, bis ich endlich in Wehrland war.
    Die anderen saßen alle schon auf ihren Klappstühlen. Die alte Dame hatte den weißhaarigen Kopf über ein Buch gebeugt. Da war ein leerer Klappstuhl, und ich setzte michdarauf und war glücklich, dass jemand einen Stuhl für mich hingestellt hatte. Vielleicht war sie es selbst gewesen. Während ihre Worte meinen Kopf füllten, sah ich sie die ganze Zeit über an. Und da fiel mir auf, dass ihr weißes Haar auf die gleiche Art weiß war, wie die Schwanzfedern des alten Adlers es gewesen waren. War es möglich, dachte ich, dass der Adler sich verwandelt hatte? In eine Königin mit einem Buch? Die weiße Königin , dachte ich. Es klang schön.
    Die ganze Vorlesestunde lang dachte ich darüber nach, und als wir hinterher am Tor standen, fragte ich die Königin ganz leise: »Glauben Sie, dass sich Sachen verwandeln? Ineinander? Zum Beispiel, wenn ein Adler stirbt, weil jemand auf ihn schießt, kann er etwas anderes werden?«
    Da nickte die weiße Königin ganz langsam.
    »Ich denke, alles kann sich verwandeln«, antwortete sie. »In manchen Ländern glauben sie, dass jeder Käfer ein gestorbener Großvater sein kann. Und bei den Christen, denen diese Kirche gehört, verwandeln sich die Toten in Engel. Manchmal.«
    »Sind Sie denn kein Christ?«, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Bist du einer?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich bin gar nichts, glaube ich.«
    »Oder alles«, sagte die weiße Königin.
    »Oder alles«, wiederholte

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