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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Sussman
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Strahlendes Sonnenlicht flutet durch die Fenster der Sprachenschule Vivre à la Française. Es hat seit Tagen – seit Wochen – geregnet, und der plötzliche Sonnenschein, der durch eine Lücke in den Wolken bricht, lässt alle in dem düsteren Büro einen Augenblick lang innehalten und das Gesicht zum Licht hin recken. Es ist früh am Morgen, und noch ist niemand hellwach. Eine junge Frau murmelt: »Bonjour, soleil.« Nico lächelt. Dann knallt die Tür, und jeder rührt sich, mit einem Mal aufgeweckt. Nico sieht sich blinzelnd um, hofft auf ein Anzeichen für das, was er bereits weiß: Irgendetwas ist anders. Es ist nicht nur die Sonne. Es ist der Tag, neu und viel versprechend. Jeder Winkel des Büros erscheint sonnendurchflutet und strahlend. Selbst das geisterhafte Mädchen hinter dem Schreibtisch schenkt Nico ein halbes Lächeln, als sie ihm sein heutiges Arbeitsblatt reicht.
    Und richtig, der heutige Unterrichtsauftrag verspricht etwas Neues – Josie Felton. Der Name gefällt ihm. Er klingt so typisch amerikanisch, und Nico stellt sich ein blondes Mädchen mit Pferdeschwanz vor, bereit, Paris zu erobern. Sein Paris. Er wird sie herumführen. Er steckt den Computerausdruck mit ihrem Namen und den Details ihrer Unterrichtsstunde – Uhrzeit, Dauer, Französischniveau, Arbeitsschwerpunkte – in seine Gesäßtasche.
    Es ist Zeit, Chantal im Café zu treffen.
    Nico tritt aus der Sprachenschule auf die Rue de Paradis. Bevor er zu dem Lokal an der Ecke geht, sieht er die Straße hinunter in die andere Richtung. Irgendetwas ist ihm ins Auge gesprungen – ein Stöhnen, das Rascheln von Stoff, ein nackter Arm. Er blinzelt in die Sonne und kann am Ende der Straße zwei Gestalten erkennen. Eine Frau drückt einen Mann gegen die Wand eines Gebäudes. Ihre Arme, nackt und mit einem tätowierten Blitz, der zickzackförmig über sonnengebräunte Haut verläuft, nageln die Schultern des Mannes fest. Sie beugt sich zu einem Kuss vor, der lange anhält. Irgendjemand drängt hinter Nico durch die Tür und rempelt ihn an.
    »Entschuldigung«, sagt er und tritt zur Seite.
    Nico sieht noch einmal hin. Die Frau schlendert davon. Der Mann fährt sich mit einer Hand durchs Haar und kommt auf Nico zu. Es ist Philippe. Nicos erster Gedanke gilt Chantal – hat sie den Kuss gesehen? Er sieht zu dem Café hinüber, und da sitzt Chantal an einem Tisch im Freien und liest in einem Buch. Nico holt einmal tief Luft.
    Philippe ist im nächsten Augenblick bei ihm und gibt ihm einen Klaps auf den Arm.
    »Ich bin spät dran, Mann«, sagt Philippe auf Französisch. »Bestell mir einen Espresso.«
    »Mache ich«, sagt Nico.
    Philippe verschwindet in die Sprachenschule, und die Tür schwingt hinter ihm zu.
    Nico, Philippe und Chantal trinken montags und freitags morgens zusammen Kaffee, nachdem sie ihre Aufträge in der Schule bekommen haben. Es gibt noch andere Französischlehrer, die regelmäßige Kurse geben anstatt Privatstunden, hauptsächlich ältere Männer und Frauen, die mit diesen dreien offenbar nichts gemein haben – auch wenn sich Nico manchmal fragt, was er mit Philippe gemein hat. Vielleicht teilen sie im Grunde nur eines: eine Schwäche für Chantal.
    Nico eilt zu dem Café. Er kann Chantals geschwungenen Nacken sehen, während sie sich über ihren Roman beugt, den Schirm an ihrer Seite, die Strickjacke ordentlich zugeknöpft. Er denkt an sie, wie sie letzte Woche im Bett aussah, nachdem sie sich geliebt haben. Ihr Haar lag fächerartig ausgebreitet auf dem Kissen, ihr Körper war schweißbedeckt, ihre Züge zärtlich. Ein anderer Mensch. Er will sie beide.
    Er beugt sich vor und küsst sie auf beide Wangen, dann lässt er sich auf dem Stuhl neben ihr nieder. Er riecht ihr Parfüm, irgendetwas, das ihn ans Mittelmeer erinnert, und er hat das seltsame Gefühl, ins kalte Wasser des Meeres zu steigen. Er sieht sich um, in dem Café herrscht viel Betrieb und Lärm, und jedes Gespräch klingt allzu laut und hektisch. Ein Mann brüllt den Fahrer eines Autos an, der zur Antwort auf die Hupe drückt. Nico stellt sich ein anderes Café vor, irgendwo in der Provence. Lass uns ans Meer fahren, würde er gerne sagen.
    Er kann die Wärme der neu herausgekommenen Sonne auf seinem Rücken spüren. Chantal legt den Kopf auf die Seite und sieht ihn an, als wolle sie seine Gedanken lesen. Als sie sich geliebt haben, zog sie ihn auf sich, sodass der ganze Raum zwischen ihnen verschwand. Jetzt verspürt er das Bedürfnis, sie zu berühren.

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