Worte der weißen Königin
Niemand versuchte mehr, mich festzuhalten. Nur Malin stand ganz nahe bei uns und sah mich aus ihren Kornblumenaugen an. Und ich wollte glücklich sein, ganz und rundherum glücklich, aber ich traute mich nicht.
»Was wird denn jetzt?«, fragte ich, plötzlich verzweifelt, und ich wusste nicht einmal, wen ich fragte. »Was wird jetzt mit mir?«
Da schob Malin ihre kleine Kinderhand in meine und sagte: »Du könntest uns zum Beispiel immer besuchen kommen und mich jeden Tag vor einem Wildschwein retten. Wildschweine gibt es viele.«
Ich schluckte. Und der Mann mit den Wintermeeraugen kam zu uns und stand einfach da, schweigend, und sah mich an.
»Eben wollten alle noch mit mir reden«, flüsterte ich, »und jetzt nicht mehr, und ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Ich sah den Mann an. Er sah ganz ruhig aus, aber ich war mir sicher, dass es eine gespielte Ruhe war. Da musste eine Menge Wut sein, am Grunde dieses Wintermeeres, eine Menge Hass. Er würde mich bestrafen, ich war mir sicher, ich wusste nur noch nicht, wie.
Und während er mich ansah und schwieg, wuchs die Angst, die ich für ein paar Augenblicke vergessen hatte, wieder. Sie wuchs und wuchs und wuchs und dröhnte in meinem Kopf, und dann sprach der Mann mit mir.
»Reden, ja … das wollte ich«, sagte er leise, sodass mein Vater es nicht hören konnte. »Vielleicht ist reden nicht so wichtig. Vielleicht war es ein Fehler.«
Ich erwiderte nichts. Malin hielt noch immer meine Hand.
Seltsam, dachte ich, ich hatte sie einmal gehasst. Sie und ihren Bruder, die alles hatten. Aber ich fand den Hass nirgendwo in mir. Ich fand nicht einmal Hass auf ihren Vater, obwohl ich solche Angst hatte vor dem, was er sagen würde.
»Du glaubst, ich weiß nichts«, sagte er. »Aber das ist nicht wahr. Ich kenne einen Teil deiner Geschichte. Wir haben dich lange gesucht. Wir hätten dich beinahe gefunden. Wenn Malin nicht drei Wochen gewartet hätte, ehe sie uns erzählt hat, dass du sie gerettet hast. Sie dachte, sie müsste dich schützen.«
»Sie kennen … einen Teil meiner Geschichte?«, flüsterte ich.
Er nickte. »Ich bin Arzt, in dem Krankenhaus, in dem du warst. Du hattest dir den Arm gebrochen. Ich habe ihn zusammengeflickt. Ich habe nie mit dir geredet, das waren meine Kollegen. Aber ich kenne deine Akte. Und später lag dein Vater in der gleichen Klinik, auf einer anderen Station, und ich habe mit ihm gesprochen. Verstehst du?«
»Nein«, sagte ich.
»Was er eigentlich sagen will«, meinte der Junge mit dem MP3-Player, »ist: Du musst nichts erklären. Gar nichts.« Erfuhr sich durchs Haar, und dabei kam seine Hand an der Stelle vorbei, wo bei mir zwei Narben die Augenbraue zerschnitten. »Gar nichts«, wiederholte er.
Und später, sehr viel später, saß ich zusammen mit meinem Vater zu Hause am offenen Fenster. Über den Feldern lag eine Dämmerung, die nach Winter roch. Im Schuppen stapelte sich das Feuerholz. Der Mann mit den Wintermeeraugen hatte dafür gesorgt, dass wir Feuerholz hatten. Er hatte zu viel Geld, aber er war eigentlich trotzdem nett.
Mein Vater rauchte stumme Kringel in den Abend. Es war ganz still.
Der Fernseher hatte endgültig seinen Geist aufgegeben. Es war unwichtig.
»Wird jetzt alles gut?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, sagte mein Vater. »Man muss abwarten.«
Der Herbstwind rauschte in den Bäumen, und weit entfernt schlug das Herbstwasser an einen steinigen Strand.
»Dieser schwarze König«, sagte mein Vater. »Von dem du erzählt hast.«
»Ja?«, fragte ich vorsichtig.
Mein Vater blies einen weiteren Kringel in den Abend. »Ich habe ihn aufgehängt«, sagte er. »An einem Ziegenstrick. Weißt du. So haben sie mich gefunden.«
Ich sagte nichts.
»Sie haben nicht mich vermisst, sondern dich«, fuhr er fort. »Sonst wären sie nie gekommen. Sie haben sich gewundert, inder Schule. Schon eine Weile. Sie haben wohl immer wieder angerufen. Aber ich bin nicht ans Telefon gegangen. Und dann ist jemand gekommen, vom Jugendamt, um nach dem Rechten zu sehen. Genau an dem Tag, an dem ich den schwarzen König erhängt habe. Das war ein Glück …«
Ich sagte noch immer nichts.
»Ich werde den Schuppen einreißen«, flüsterte mein Vater. »Wo die Flaschen standen. Er ist sowieso zu nichts gut. Hilfst du mir?«
Ich zögerte. Dann nickte ich.
Und wir schwiegen lange.
»Der Junge mit dem MP3-Player«, sagte ich schließlich, »der könnte uns vielleicht auch helfen, mit dem Einreißen. Er ist ganz okay. Er hat
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