WoW 02 - Der letzte Wächter
zwischen dem Eingang und dem zerfallenen Pferdestall, stand ein einzelnes, geisterhaftes Bild, einsam und verloren. Es bewegte sich nicht wie die anderen, es stand nur da, unsicher, zögernd, ein Fragment der Vergangenheit, das nicht entlassen worden war. Ein Fragment, das auf ihn wartete.
Das bewegungslose Bild zeigte einen jungen Mann mit schwarzem, unordentlichem Haar, durch das ein breiter, weißer Streifen verlief. Das schüttere Haar eines Bartes, der gerade erst zu sprießen begonnen hatte, tat seinem Gesicht keinen Gefallen. Ein ramponierter Rucksack lag zu Füßen des Jungen, der einen rot versiegelten Brief in der Hand hielt.
Dies war kein Geist, wusste der Eindringling, obwohl der Jüngling inzwischen tot sein mochte, im Kampf unter einer fremden Sonne gefallen. Dies war eine Erinnerung, Treibgut der Vergangenheit, gefangen wie ein Insekt im Bernstein. Sie wartete auf ihre Befreiung. Sie wartete auf ihn.
Der Störenfried legt die Hände auf das steinerne Sims des Balkons und blickte hinaus über den Burghof, über die Anhöhe, über den Hügelring. Schweigen herrschte im Mondlicht, und auch die Berge schienen den Atem anzuhalten und auf ihn warten.
Der Eindringling hob eine Hand und intonierte eine Reihe gesungener Worte. Zunächst kamen die Reime und Rhythmen leise, dann lauter, und schließlich wurden sie zu Rufen, zu Schreien. Sie zerschmetterten die Stille. In der Ferne nahmen Wölfe den seltsamen Gesang auf und warfen einen heulendem Kontrapunkt zurück.
Und das Bild des geisterhaften Jungen, dessen Füße im Schlamm gefangen schienen, atmete tief ein. Es packte den mit Geheimnissen beladenen Rucksack auf seine Schultern und schleppte sich auf das Tor von Medivhs Turm zu.
EINS
KARAZAHN
Khadgar umklammerte das rot versiegelte Empfehlungsschreiben und versuchte verzweifelt, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Tagelang war er geritten, hatte verschiedene Karawanen begleitet und sich schließlich allein durch die weiten, dunklen Wälder von Elwynn auf den Weg nach Karazhan gemacht. Dann der beschwerliche Aufstieg in die Berge, bis er diesen ruhigen, einsamen Ort erreicht hatte. Selbst die kalte Luft schien hier von besonderer Art zu sein. Nun stand der junge Mann mit dem dünnen Bart im Hof, wund und müde im schwindenden Licht der Abenddämmerung, versteinert vor Angst angesichts dessen, was er jetzt tun musste: beim mächtigsten Magier von Azeroth vorstellig werden.
Es ist eine große Ehre, hatten die Weisen der Kirin Tor gesagt. Eine Gelegenheit, so versicherten sie ihm und sich selbst, die man nicht verstreichen lassen durfte. Khadgars Lehrer – ein Konklave einflussreicher Gelehrter und Zauberer – hatten ihm erzählt, wie sie schon seit Jahren versuchten, ein geneigtes Ohr im Turm von Karazhan zu finden. Die Kirin Tor wollten erfahren, welches Wissen der mächtigste Zauberer des ganzen Landes in seiner Bibliothek versteckte, welche Forschungen er betrieb. Und vor allem wollten sie, dass dieser geheimnisvolle Einzelgänger endlich begann, für sein Erbe zu planen und einen Nachfolger heranzuziehen.
Der große Medivh und die Kirin Tor stritten offenbar seit Jahren über dies und anderes, und erst jetzt gab der Magus ein paar ihrer flehentlichen Bitten nach. Erst jetzt wollte er einen Schüler annehmen. Ob dies bedeutete, dass das einhelligen Berichten zufolge überaus harte Herz des Zauberers endlich weich wurde, ob es nur ein diplomatischer Schachzug war, oder ob der Magier endlich seine Sterblichkeit zu spüren begann, war Khadgars Meistern gleichgültig. Der mächtige, unabhängige (und für Khadgar höchst geheimnisvolle) Magier hatte um einen Assistenten gebeten, und die Kirin Tor, die das magische Königreich von Dalaran regierten, waren überglücklich, dieser Bitte nachkommen zu dürfen.
So wurde der junge Khadgar ausgewählt und losgeschickt – mit einer Liste von Forderungen, Anweisungen, Befehlen, Gegenbefehlen, Bitten, Vorschlägen, Ratschlägen und weiteren Forderungen seiner Meister. Frage Medivh nach den Kämpfen seiner Mutter mit Dämonen, hatte Guzbah, sein Erster Lehrer, gebeten. Durchforste seine Bibliothek nach allem, was du über die Geschichte der Elfen finden kannst, bat Lady Delth. Geh all seine Bestiarien durch, befahl Alonda, der überzeugt war, dass es eine fünfte Troll-Rasse gab, die in seinen eigenen Büchern bisher noch unerwähnt geblieben war. Sei direkt, offen und ehrlich, riet Norlan, der Haupt-Kunstwerker – der große Magus
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