Wuensch dir was
sie vor meiner Tür auf und ab wandern. Weiß der Himmel, was sie da draußen treibt.
Dann öffnet sich die Schlafzimmertür, und durch den Spalt dringt Licht aus dem Wohnzimmer herein. »Gram?«, flüstert sie.
Verflixt. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
Ich will noch immer nicht reden. Ich brauche Ruhe.
»Gram?«, wiederholt sie, diesmal in normaler Lautstärke.
»Nicht jetzt, Lucy«, brumme ich.
»Gram.« Licht erfüllt das Schlafzimmer. Sie hat die Tür ganz geöffnet. Ich vergrabe das Gesicht im Kissen. Sie kommt auf mich zu und baut sich vor mir auf.
»Schluss damit, Gram. Es reicht allmählich.«
»Lucy, du verstehst das nicht.«
Sie setzt sich aufs Bett und streckt sich neben mir aus. Eigentlich ist es ganz schön, sie neben mir zu spüren.
»Gram, so kann das nicht weitergehen.«
Ich wende das Gesicht ab. »Ich hab doch gesagt, ich will meine Ruhe.«
»Da bist du nicht die Einzige. Ich verstehe ja, dass du leidest, aber vergiss nicht, dass es jemanden gibt, dem es genauso schlecht geht wie dir.«
»Du hast doch bekommen, was du wolltest, Lucy«, sage ich verbittert und drehe mich zu ihr um. »Du wolltest einen Tag mit deiner Großmutter als neunundzwanzigjährige Frau verbringen, und das hast du getan. Und was hatte ich davon?«
»Das kann ich dir sagen!«, ruft sie. »Du hast einen Mann kennengelernt und ihm das Herz gebrochen, und seither verbarrikadiert er sich zu Hause, genau wie du.«
»Ach ja?«, frage ich verblüfft.
»Ja, Gram! Zach redet nur noch davon, wie er sich Hals über Kopf in dich verliebt hat und dass ihm so etwas noch nie passiert ist. Er versteht nicht, warum du einfach verschwunden bist. Er hat alle drei Ellie Jeromes im Großraum Chicago ausfindig gemacht und angerufen, und er überlegt, ob er persönlich hinfahren soll. Er ist sauer auf mich, weil ich ihm deine Telefonnummer nicht geben will … oder ihre … Ich weiß es schon gar nicht mehr. Du musst mit ihm reden.«
Ich schlucke.
»Bist du verrückt? Das werde ich auf gar keinen Fall tun, Lucy. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Wie soll ich ihm denn in diesem Zustand gegenübertreten?« Ich schlage die Bettdecke zurück und entblöße meinen fünfundsiebzig Jahre alten Körper.
»Na, indem du dich als Ellie Micheles Großmutter ausgibst, oder wie auch immer wir sie genannt haben. Mir will er nämlich partout nicht zuhören.«
Ich lasse mir ihre Worte durch den Kopf gehen. Ich kann ihn nicht wiedersehen. Unmöglich. Wie soll ich in seine blauen Augen sehen, wenn ich weiß, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann? Schon die Vorstellung, dass ich ihm nie mehr mit den Fingern durch seinen prächtigen Haarschopf fahren darf …
»Lucy, ich … ich kann nicht.« Ich lasse den Kopf auf mein Kissen sinken und wende mich ab.
»Meine Güte, Gram, warum bist du denn so unglücklich? Was ist denn so Schlimmes passiert, dass du
dich total aus der Welt zurückziehst? Du sagst, ich hätte bekommen, was ich will, aber das hast du doch auch, verdammt noch mal!«
Jetzt bin ich wütend auf sie. »Ach ja? Was habe ich denn bekommen, Lucy? Soll ich dir mal verraten, was mir die ganze Sache gebracht hat?« Ich richte mich auf und sehe ihr in die Augen. »Seelische Qualen! Ich habe erfahren, was es bedeutet, noch einmal jung zu sein. Gut, ich habe meine Tochter von einer völlig neuen Seite kennengelernt, aber mir ist auch klargeworden, dass es wahrscheinlich ein Fehler war, deinen Großvater zu heiraten. Womöglich habe ich mein ganzes Leben verpfuscht, und in dem Augenblick, als ich dachte, ich könnte noch einmal ganz von vorn anfangen, wurde mir klar, dass ich dieses Geschenk nicht annehmen konnte, weil ich in mein altes Leben zurückkehren musste. Weil ich zu meiner Familie gehöre. Weil ich dieses Leben zu Ende bringen muss. Niemand bekommt eine zweite Chance. Genau das habe ich davon, und weißt du was? Es macht mich wütend!«
Ich boxe mit der Faust in mein Kissen, ehe ich wieder den Kopf darauf plumpsen lasse.
Lucy mustert mich empört. Ich sehe, dass sie schäumt vor Wut, aber es ist mir egal.
»Weißt du was, Gram?«
Ich gebe keine Antwort.
»Es tut mir ja sooo leid für dich.«
»Was soll denn das nun wieder heißen?«
»Das soll heißen: Es tut mir leid, dass du keine zweite
Chance bekommen hast. Es tut mir leid, dass du auf einmal aus irgendwelchen völlig verqueren Gründen zu dem Schluss gekommen bist, deine Kinder und dein Mann wären ohne dich besser dran gewesen. Ehrlich.« Ihre Stimme
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