Wunder
nicht wahr? Woher wissen wir, dass wir gute Menschen gewesen sind? Was ist das überhaupt, ein guter Mensch?«
Er setzte erneut seine Lesebrille auf und begann, in einem anderen schmalen Buch zu blättern.
»Es gibt noch eine andere Passage aus einem anderen Buch, die ich gerne mit euch und Ihnen teilen möchte«, sagte er. »Wenn Sie noch so viel Geduld mit mir haben, bis ich sie gefunden habe … Ah, da haben wir’s. In Unter dem Auge der Uhr von Christopher Nolan ist die Hauptfigur ein junger Mann, der sich außergewöhnlichen Herausforderungen stellen muss. Es gibt da einen Moment, in dem ihm jemand hilft: ein Mitschüler in seiner Klasse. Oberflächlich betrachtet ist es nur eine kleine Geste. Aber für diesen jungen Mann, der Joseph heißt, ist es … nun, wenn ihr erlaubt …«
Er räusperte sich und begann, aus dem Buch vorzulesen: »Es waren Momente wie diese, in denen Joseph das Antlitz Gottes in menschlicher Gestalt erkannte. Es schimmerte auf in ihrer Freundlichkeit, es glühte in ihrer Hilfsbereitschaft, es deutete sich an in ihrer Sorge, es trat liebevoll in ihren Blicken zutage.«
Er hielt inne und nahm erneut seine Lesebrille ab.
»Es schimmerte auf in ihrer Freundlichkeit«, wiederholte er lächelnd. »Etwas so Einfaches, Freundlichkeit. Eine so einfache Sache. Ein nettes Wort der Unterstützung, wenn wir es brauchen. Eine Geste der Freundschaft. Ein Lächeln im Vorübergehen.«
Er klappte das Buch zu, legte es ab und lehnte sich auf dem Pult nach vorn.
»Kinder, was ich euch heute mit auf den Weg geben möchte, ist ein Verständnis vom Wert des einfachen Wortes Freundlichkeit. Und dabei möchte ich es für heute belassen. Ich weiß, ich bin ziemlich berüchtigt für meine … ähm … Redseligkeit.«
Hier lachten wieder alle. Ich nehme an, er wusste, dass alle seine langen Reden fürchteten.
»… aber«, fuhr er fort, »ich wünsche mir für euch, meine Schüler, dass das, was ihr von der Middle-School auf euren Lebensweg mitnehmen könnt, das sichere Wissen ist, dass in der Zukunft, die ihr euch selbst gestaltet, alles möglich ist. Wenn jede einzelne Person in diesem Raum es sich zur Regel machen würde, wo immer sie sich befindet, wann immer es möglich ist, zu versuchen, sich etwas freundlicher zu verhalten, als es notwendig ist – würde die Welt zu einem besseren Ort werden. Und wenn ihr das tut, wenn ihr euch etwas freundlicher verhaltet als notwendig, dann wird irgendjemand irgendwo irgendwann vielleicht in jedem Einzelnen von euch das Antlitz Gottes erkennen.«
Er machte eine Pause und zuckte mit den Schultern.
»Oder welche politisch korrekte spirituelle Verkörperung universeller Güte es auch sein mag, an die ihr zufällig glaubt«, fügte er rasch hinzu und lächelte, was viel Gelächter und jede Menge Applaus auslöste, besonders im hinteren Teil der Aula, wo die Eltern saßen.
Auszeichnungen
Ich mochte Mr. Pomanns Rede, aber ich muss zugeben: Bei einigen der anderen Reden schweiften meine Gedanken komplett ab.
Ich passte wieder auf, als Miss Rubin begann, die Namen der Schüler mit den guten Notendurchschnitten vorzulesen, denn wir sollten aufstehen, wenn wir genannt wurden. Also wartete ich und hörte zu, während sie die Namen alphabetisch durchging. Reid Kingsley. Maya Markowitz. August Pullman. Ich stand auf. Als sie mit dem Vorlesen der Namen fertig war, sagte sie uns, wir sollten uns alle dem Publikum zuwenden und uns verbeugen, und alle applaudierten uns.
Ich hatte keine Ahnung, wo genau in dieser riesigen Menschenmenge meine Eltern saßen. Ich konnte bloß Blitzlichter von den Leuten sehen, die Fotos machten, und Eltern, die ihren Kindern zuwinkten. Ich stellte mir vor, wie Mom mir von irgendwo zuwinkte, aber sehen konnte ich sie nicht.
Dann trat Mr. Pomann wieder auf die Bühne, um die Medaillen für die besten schulischen Leistungen zu vergeben. Jack hatte recht gehabt: Ximena Chin erhielt die Goldmedaille für »herausragende schulische Gesamtleistungen in der fünften Klasse«. Charlotte bekam die in Silber. Charlotte erhielt außerdem eine Goldmedaille im Bereich Musik. Amos bekam eine Medaille für herausragende sportliche Leistungen, worüber ich mich echt freute, denn seit unserer Jahrgangsfahrt war Amos für mich einer meiner besten Freunde an der Schule. Aber so richtig, richtig begeistert war ich, als Mr. Pomann Summers Namen aufrief, um ihr die Medaille fürs Kreative Schreiben zu überreichen. Ich sah, wie Summer die Hand über ihren
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