Wunder
größer, als ich sie mir vorgestellt hatte – sogar größer als die in Vias Schule. Ich schaute mich um, es müssen eine Million Menschen im Publikum gesessen haben. Okay, vielleicht keine Million, aber definitiv ne Menge.
»Vielen Dank, Direktor Jansen, für diese so netten Worte der Begrüßung«, sagte Mr. Pomann und stellte sich auf der Bühne hinter das Podium, wo er ins Mikrofon sprach. »Herzlich willkommen, liebe Kollegen und Mitglieder des Lehrkörpers …
Willkommen, liebe Eltern und Großeltern, Freunde und verehrte Gäste, und ein ganz besonders herzliches Willkommen an meine Schüler des fünften und sechsten Jahrgangs …
Willkommen zur großen Abschlussfeier der Beecher Prep Middle School!!!«
Alle applaudierten.
»Jedes Jahr«, fuhr Mr. Pomann fort und las aus seinen Notizen ab, wobei ihm seine Lesebrille tief unten auf der Nasenspitze saß, »habe ich den Auftrag, zwei Abschlussreden zu halten: eine für den Abschluss des fünften und sechsten Jahrgangs heute, und eine für die Feier des siebten und achten Jahrgangs, die morgen stattfinden wird. Und jedes Jahr sage ich mir: Spar dir die Arbeit und schreib bloß eine Rede, die du für beide Gelegenheiten benutzen kannst. Man sollte meinen, dass das nicht allzu schwer ist, nicht wahr? Und doch habe ich am Ende immer zwei Reden parat, ganz gleich, was ich vorhatte. Aber in diesem Jahr habe ich nun endlich auch herausgefunden, weshalb. Es liegt nicht, wie man meinen könnte, daran, dass ich morgen schlicht zu älteren Schülern spreche, die ihre Middle-School-Erfahrungen schon so gut wie hinter sich haben – wohingegen eure noch zu großen Teilen vor euch liegen. Nein, ich glaube, dass es vielmehr mit dem besonderen Alter zu tun hat, in dem ihr gerade seid. Es hat zu tun mit dieser besonderen Phase in eurem Leben, die mich – auch nach zwanzig Jahren Berufserfahrung – immer noch bewegt. Denn ihr befindet euch jetzt an einem Wendepunkt. Ihr steht an der Grenze zwischen Kindheit und all dem, was danach kommt. Ihr seid im Übergang.
Wir sind hier heute zusammengekommen«, fuhr Mr. Pomann fort, nahm seine Brille ab und zeigte mit ihr auf uns im Publikum, »eure Familien, Freunde und Lehrer, nicht nur, um das zu feiern, was ihr im letzten Jahr erreicht habt, liebe Beecher-Middle-School-Schüler – sondern auch, um eure unendlichen Möglichkeiten zu feiern.
Wenn ihr über das vergangene Jahr nachdenkt, möchte ich, dass ihr euch anschaut, wo ihr jetzt steht und an welchem Punkt ihr vorher gewesen seid. Ihr seid alle ein Stückchen gewachsen, seid ein wenig kräftiger geworden und ein wenig klüger … das hoffe ich zumindest.«
Hier kicherten einige Leute im Publikum.
»Aber um zu ermessen, wie ihr gewachsen seid, muss man sich nicht die Zentimeter anschauen oder wie viele Runden ihr jetzt auf dem Sportplatz laufen könnt und nicht einmal euren Notendurchschnitt – auch wenn all diese Dinge natürlich wichtig sind. Es ist das, was ihr mit eurer Zeit angefangen habt, wie ihr euch entschlossen habt, eure Tage zu verbringen, und wen ihr in diesem Jahr menschlich berührt habt. Dies ist für mich die bedeutendste Maßeinheit des Erfolgs.
Es gibt ein wunderbares Zitat in einem Buch von James M. Barrie – und nein, ich meine nicht Peter Pan , und ich werde euch jetzt auch nicht bitten zu klatschen, wenn ihr an Feen glaubt …«
Hier lachten wieder alle.
»Aber in einem anderen Buch von James M. Barrie namens Kleiner weißer Vogel schreibt er …« Er begann, auf dem Pult ein schmales Buch durchzublättern, bis er die Seite fand, die er gesucht hatte. Dann setzte er seine Lesebrille wieder auf. »Sollen wir eine neue Lebensregel aufstellen … wollen wir immer versuchen, ein bisschen freundlicher zu sein als unbedingt nötig?«
Hier schaute Mr. Pomann ins Publikum. »Freundlicher als unbedingt nötig«, wiederholte er. »Was für ein wunderbares Zitat, nicht wahr? Freundlicher als notwendig . Denn es genügt nicht, bloß freundlich zu sein. Man sollte freundlicher sein als notwendig. Ich liebe dieses Zitat, dieses ganze Konzept, deshalb so sehr, weil es mich daran erinnert, dass wir als menschliche Wesen nicht nur die Möglichkeit haben, nett zu sein, sondern die Wahl haben, wirklich freundlich zu sein. Und was bedeutet das? Wie lässt es sich bemessen? Nicht mit dem Zollstock. Wie ich bereits sagte: Es geht nicht darum, zu messen, wie viele Zentimeter ihr im letzten Jahr gewachsen seid. Es lässt sich auch gar nicht in Zahlen ausdrücken,
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