Xeelee 2: Das Geflecht der Unendlichkeit
Evolution seiner eigenen Emotionen.
Er durchlebte Verzweiflung. Warum war er an diesen Punkt, der Raumzeit gebracht, auf diese Art aufbewahrt und dann so beiläufig abgelegt worden?
Die Verzweiflung verwandelte sich in Zorn und dauerte eine lange Zeit an.
Doch der Zorn verging wieder.
Er wurde neugierig und begann mit seinem Bewußtsein zu experimentieren. Physikalisch schien er aus einem dichten Knoten von Quantenwellen-Funktionen zu bestehen; jetzt begann er vorsichtig diesen Knoten zu entwirren und erlaubte es dem Fokus seines Bewußtseins, durch die Raumzeit zu gleiten. Bald schien es, als ob er über der Krümmung des Kosmos dahinfliegen würde, losgelöst von den Fesseln von Raum und Zeit.
Überall in der Galaxis stieß er auf die Zeugnisse der Menschheit. Er schwebte über Plätzen und Artefakten, welche die Geschichte überdauert hatten und verweilte ebenso lange über einem dahindriftenden Kinderspielzeug wie über einem riesigen Raumfort.
Überall stieß er auf Relikte des Krieges. Zerstörte Sterne und Welten, vergeudete Energie. Aber was er nirgendwo fand, waren Menschen – Leben.
Zuerst verlieh Michael den Orten, die er besuchte, und den Relikten, die er fand, noch Bezeichnungen aus der menschlichen Terminologie; doch als die Zeit verging und seine Zuversicht wuchs, riß er diese Barriere bewußten Denkens nieder. Er ließ es zu, daß sich sein Bewußtsein weiter entspannte und die enge menschliche Wahrnehmung, an die er sich geklammert hatte, erweiterte.
Um ihn herum waren nur Quantenwellen-Funktionen. Sie breiteten sich von Sternen und Planeten aus, Ebenen der Wahrscheinlichkeit, die Materie und Zeit miteinander verknüpften. Sie waren wie Spinnennetze, die sich über die alternden Galaxien legten; sie überlagerten, verstärkten und hoben sich gegenseitig wieder auf und unterlagen dabei alle der unerbittlichen Logik der herrschenden Wellengleichungen.
Die Funktionen füllten die Raumzeit aus und durchbohrten seine Seele. Überschwenglich ritt er auf ihrer stimulierenden Brillanz durch die Herzen vergehender Sterne.
Er entspannte sein Wahrnehmungsspektrum, so daß kein Unterschied mehr zu bestehen schien zwischen dem Durchmesser eines Elektrons und der Tiefe einer Sternen-Schwerkraftquelle. Sein Zeitgefühl dehnte sich, so daß er den insektengleichen, flatternden Zerfall freier Neutronen studieren – oder zurückgehen und den gemessenen, langsamen Zerfall von Protonen selbst beobachten konnte…
Bald war nicht mehr viel von einem Menschen in ihm übrig.
Schließlich war er bereit für den letzten Schritt.
Das menschliche Bewußtsein war ein künstlich Ding. Die Menschen hatten einmal geglaubt, daß Götter sie beseelt hätten und ihre Kämpfe in Menschengestalt austrugen. Später hatten sie das Konzept eines autonomen und eigenständigen Bewußtseins entwickelt. Jetzt erkannte Michael, daß das alles nicht mehr als eine Idee gewesen war, ein Modell, eine Illusion, hinter der man sich verstecken konnte.
Er, der letzte Mensch, mußte sich nicht länger an einen solchen altmodischen Trost klammern.
Er realisierte, daß es keine Erkenntnis gab. Es gab nur Wahrnehmung.
Mit dem Äquivalent eines Lächelns entspannte er sich. Sein Bewußtsein flackerte und erlosch.
Er befand sich jenseits von Raum und Zeit. Die riesigen Quantenfunktionen, die das Universum durchdrangen, glitten wie ein großer, reißender Fluß an ihm vorüber, und seine Sicht wurde von dem grauen Licht ausgefüllt, mit dem die Realität unterlegt war, das Licht, vor dem alle Phänomene nur Schatten waren.
Die Zeit verstrich, ohne Meßpunkte.
Und dann…
Da trieb ein Objekt im Raum, ein Tetraeder mit durchsichtigen Flächen. Ein Seil aus geflochtener Rinde wurde von ihm nachgeschleppt. Der Mensch war in gegerbte Tierhäute gekleidet. Er war hager, schmutzverkrustet, und die Haut war durch den Frost zerstört.
Erstaunt starrte er zu den Sternen hinaus.
In Michaels erweitertem Bewußtsein rumorte es. Etwas hatte sich verändert…
Die Geschichte begann von neuem.
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