Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
waren aber zu wertvoll, als dass die Menschheit auf sie hätte verzichten können.
Hassan lehnte sich gegen ein Computer-Terminal und verschränkte die Arme. Sein silbergrauer Anzug streute das Licht. »Was ist die Todesursache?«
»Zusammenbruch der synaptischen Funktionen. Es fand eine starke elektrische Entladung statt, die die meisten höheren Zentren lahmlegte.« Sie deutete auf Marsdens Implantat. »Dieses Ding war der Auslöser.« Sie schniefte. »Das vermute ich zumindest. Ich bin nicht qualifiziert, eine Autopsie vorzunehmen. Und…«
»Das habe ich auch nicht von dir verlangt«, sagte Hassan unwirsch.
»Um einen Mord handelt es sich jedenfalls nicht«, sagte Bayliss trocken. Die Sache schien sie zu amüsieren. »Er war allein auf diesem Mond. Eine Million Meilen von der nächsten Menschenseele entfernt. Inspektor Columbo würde den Fall sicher lösen.«
Hassan schwenkte den Kopf zu Chen. »Glaubst du, dass es sich um Mord handelt, Susan?«
»Das muss die Polizei herausfinden.«
Hassan seufzte theatralisch entsagungsvoll. »Ich möchte deine Meinung hören.«
»Nein. Ich glaube nicht, dass ein Mord vorliegt. Das Motiv fehlt. Anscheinend wusste niemand, womit er sich hier beschäftigte.«
»Also Selbstmord?«, fragte Bayliss. »Schließlich sind wir hergekommen, um Marsden zu informieren, dass eine Wurmloch-Autobahn in Kürze Millionen neuer Kolonisten aus dem inneren System hierher bringt. Damit hätte sein Eremiten-Dasein ein jähes Ende gefunden.«
»Nur dass er von unsrem Besuch nichts wusste«, sagte Hassan. »Zumal…« – er ließ den Blick umherschweifen: über das ungemachte Bett, die karge Kuppel, die versiffte Leiche – »…das kein Mann war, der um sich besorgt gewesen wäre – oder sich selbst etwas bedeutet hätte. Ganz im Gegenteil. Alles spricht dafür, dass er…« – er zögerte – »…stabil war. Es gibt Anzeichen für umfangreiche und sorgfältige Arbeiten. Er lebte, um zu arbeiten. Und Bayliss weiß, dass solche Forschungen im Grunde nie abgeschlossen sind. Da möchte man nicht vorzeitig aus dem Leben scheiden – am liebsten überhaupt nicht.« Er schaute Bayliss an. »Hab ich Recht?«
Bayliss runzelte die Stirn. Ihre verstärkten Augen waren ausdruckslos und reflektierten das Licht, während sie nach einer Antwort suchte. »Ein Unfall? Aber Marsden war kein Depp. Was auch immer er mit dem Implantat im Kopf vorhatte – ich glaube nicht, dass er sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte.«
»Was hatte er denn vor?«, fragte Chen säuerlich. »Hast du das schon herausgefunden?«
Bayliss rieb sich den Rücken ihrer kleinen flachen Nase. »Es gibt hier sehr viele Daten, von denen die meisten nicht indiziert sind. Ich habe Crawler-Algorithmen in die Hauptspeicher geschickt, um die Struktur zu ermitteln.«
»Dein vorläufiger Befund?«, fragte Hassan.
»Metamathematik.«
»Was?«, fragte Hassan verständnislos.
»Und viele experimentelle Resultate hinsichtlich der Quanten-Nonlinearität, die…«
»Ich will wissen, was es mit der Metamathematik auf sich hat«, sagte Hassan.
Das metallische Geflecht auf Bayliss’ Hornhaut funkelte; Chen fragte sich, ob diese bionischen Verstärkungen empfindungsfähig waren. Wahrscheinlich. Solche Implantate waren seit der Verabschiedung der ersten Bionik-Gesetze auf der Erde verboten, auf dem Mars waren sie jedoch eine begehrte Handelsware. »Marsdens Datenspeicher enthalten einen fragmentierten Katalog mathematischer Varianten. Sie beruhen auf den Postulaten der Arithmetik, unterscheiden sich aber in der Lösung unbestimmter Hypothesen.«
»Unbestimmtheit. Du meinst die Unvollständigkeits-Theoreme«, sagte Chen.
»Richtig. Ein logisches System mit den Axiomen einfacher Arithmetik ist so komplex, dass es unmöglich ist, es zu vervollständigen. Es besteht immer die Möglichkeit, Aussagen zu konstruieren, die weder falsifiziert noch durch Deduktion von den Axiomen bewiesen werden können. Vielmehr muss das logische System durch die Integration der Wahrheit beziehungsweise durch die Falsifikation solcher Aussagen in Form zusätzlicher Axiome erweitert werden…«
Die Kontinuum-Hypothese war ein solches Beispiel.
Es gab verschiedene Ordnungen der Unendlichkeit. Es gab ›mehr‹ reelle Zahlen im Intervall zwischen Null und Eins als ganze Zahlen. Gab es eine Ordnung der Unendlichkeit zwischen den reellen und ganzen Zahlen? Das war innerhalb einfacher logischer Systeme wie der Mengenlehre nicht zu bestimmen; also mussten zusätzliche
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