Xenozid
gemacht hatte – ihre Aufsässigkeit gegen die Götter, die Weigerung, die Reinigung früher zu akzeptieren, die Dummheit, ihre wahre Aufgabe nicht verstanden zu haben –, kam nun zusammen. Nicht, daß sie sich schmutzig fühlte; sie wollte sich nicht waschen, und sie verspürte auch keinen Abscheu vor sich selbst. Schließlich war ihre Unwürdigkeit durch Vaters Lob gemildert worden, durch den Gott, der ihr zeigte, wie man durch die Tür gehen mußte. Und Wang-mu hatte sich als gute Wahl erwiesen – das war eine Prüfung, die Qing-jao bestanden hatte, und zwar mit wehenden Fahnen. Also ließ nicht die Minderwertigkeit sie zittern. Sie war versessen auf Reinigung. Sie sehnte sich danach, daß die Götter bei ihr waren, während sie ihnen diente. Doch keine Buße, die sie kannte, reichte aus, ihre Versessenheit zu stillen.
Dann wußte sie: Sie mußte eine Linie auf jedem Brett im Raum verfolgen.
Sofort wählte sie ihren Ausgangspunkt, die südöstliche Ecke. Sie würde an der östlichen Wand beginnen, die Linien zu verfolgen, damit sie sich in ihrem Ritual gen Westen bewegte, den Göttern entgegen. Das letzte würde auch das kürzeste Brett im Raum sein, kaum einen Meter lang, in der nördlichen Ecke. Es sollte ihre Belohnung sein, daß das Aufspüren der letzten Linie so kurz und leicht geriet.
Sie hörte, wie Wang-mu hinter ihr leise den Raum betrat, doch sie hatte nun keine Zeit für Sterbliche. Die Götter warteten. Sie kniete in der Ecke nieder und musterte die Linien der Maserung, um diejenige zu finden, der sie dem Wunsch der Götter zufolge nachspüren sollte. Normalerweise blieb die Wahl ihr überlassen, und dann entschied sie sich immer für die schwierigste, damit die Götter sie nicht verachteten. Doch heute war sie von der augenblicklichen Zuversicht erfüllt, daß die Götter die Wahl für sie übernehmen würden. Die erste Linie war ziemlich dick; sie verlief wellenförmig, ließ sich aber leicht verfolgen. Die Götter waren bereits gnädig gestimmt! Das heutige Ritual würde fast zu einem Gespräch zwischen ihr und den Göttern werden. Sie hatte heute eine unsichtbare Barriere durchbrochen; sie war dem klaren Verständnis ihres Vaters nähergekommen. Vielleicht würden eines Tages die Götter mit jener Deutlichkeit zu ihr sprechen, von denen das normale Volk vermutete, alle Gottberührten würden sie vernehmen.
»Heilige«, sagte Wang-mu.
Es war, als bestünde Qing-jaos Freude aus Glas, das Wang-mu absichtlich zertrümmerte. Wußte sie nicht, daß man ein Ritual von vorn beginnen mußte, wenn es einmal unterbrochen worden war? Quing-jao richtete sie auf die Knie auf und drehte sich zu dem Mädchen um.
Wang-mu mußte den Zorn auf Qing-jaos Gesicht gesehen haben, verstand ihn aber falsch. »Oh, es tut mir leid«, sagte sie sofort, fiel auf die Knie und verbeugte sich. »Ich habe vergessen, daß ich dich nicht ›Heilige‹ nennen soll. Ich wollte dich nur fragen, wonach du suchst, damit ich dir bei der Suche helfen kann.«
Qing-jao hätte fast laut aufgelacht, daß Wang-mu sich so sehr irrte. Natürlich hatte Wang-mu keine Ahnung, daß die Götter gerade zu Qing-jao sprachen. Und nun, nachdem ihr Ärger verflogen war, schämte sich Qing-jao, als sie sah, wie sehr Wang-mu ihren Zorn fürchtete; es war nicht rechtens, daß das Mädchen mit der Stirn den Boden berührte. Qing-jao gefiel es nicht, daß sich ein anderer Mensch so erniedrigte.
Wieso habe ich ihr so große Angst gemacht? Ich war von Freude erfüllt, weil die Götter so deutlich zu mir sprachen; doch meine Freude war so selbstsüchtig, daß ich eine Miene des Hasses aufsetzte, als sie mich unschuldig unterbrach. Antworte ich etwa so den Göttern? Sie zeigen mir ein Gesicht der Liebe, und ich wandle es um in Haß auf die Menschen, besonders auf jene, die meiner Macht ausgeliefert sind? Erneut haben die Götter einen Weg gefunden, mir meine Unwürdigkeit zu zeigen.
»Wang-mu, du darfst mich nicht unterbrechen, wenn du mich so auf dem Boden kauernd vorfindest.« Und sie erklärte Wang-mu, daß die Götter von ihr das Ritual der Reinigung verlangten.
»Muß ich das auch tun?« fragte Wang-mu.
»Nicht, wenn die Götter es dir nicht sagen.«
»Wie werde ich es wissen?«
»Wenn es in deinem Alter noch nicht passiert ist, Wang-mu, wird es wahrscheinlich auch nicht mehr passieren. Doch wenn es passiert wäre, wüßtest du es, denn du hättest nicht die Macht, der Stimme der Götter in deinem Kopf zu widerstehen.«
Wang-mu nickte ernst.
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