Xenozid
entfernt, beugte sich Qing-jao über den Anfang des Bretts und verfolgte die breiteste Linie. Sie führte sie direkt zur Wand. Es war vollbracht.
Qing-jao sackte gegen die Wand und lachte vor Erleichterung auf. Doch sie war so schwach und müde, daß Wang-mu ihr Lachen für Weinen gehalten haben mußte. Augenblicklich war das Mädchen bei ihr und berührte ihre Schulter. »Qing-jao«, sagte es, »hast du Schmerzen?«
Qing-jao nahm die Hand des Mädchens und hielt sie. »Keine Schmerzen. Zumindest keine, die der Schlaf nicht kurieren kann. Ich bin fertig. Ich bin sauber.«
In der Tat sogar so sauber, daß sie nicht zögerte, Wang-mus Hand zu umklammern, Haut an Haut; sie empfand nicht die geringste Unreinheit dabei. Es war ein Geschenk der Götter, daß sie jemandes Hand halten konnte, nachdem sie ihr Ritual bewältigt hatte. »Das hast du sehr gut gemacht«, sagte Qing-jao. »Ich konnte mich leichter auf die Linien konzentrieren, weil du bei mir warst.«
»Ich glaube, ich bin einmal eingeschlafen, Qing-jao.«
»Vielleicht auch zweimal. Aber du bist erwacht, als es darauf ankam, und es ist kein Schaden entstanden.«
Wang-mu begann zu weinen. Sie schloß die Augen, nahm aber nicht die Hand aus Qing-jaos, um ihr Gesicht zu bedecken. Sie ließ die Tränen einfach die Wangen hinabfließen.
»Warum weinst du, Wang-mu?«
»Ich habe es nicht gewußt«, sagte sie. »Es ist wirklich schwer, eine Gottberührte zu sein. Das habe ich nicht gewußt.«
»Und es ist auch schwer, einer Gottberührten eine wahre Freundin zu sein«, sagte Qing-jao. »Deshalb wollte ich nicht, daß du mir eine Dienerin bist, die mich ›Heilige‹ nennt und den Klang meiner Stimme fürchtet. So eine Dienerin hätte ich aus meinem Zimmer schicken müssen, wenn die Götter zu mir sprechen.«
Wang-mus Tränen flossen nun noch heftiger.
»Si Wang-mu, ist es zu schwer für dich, bei mir zu sein?« fragte Qing-jao.
Wang-mu schüttelte heftig den Kopf.
»Ich würde es verstehen, sollte es jemals zu schwer für dich werden. Du kannst mich dann verlassen. Ich war zuvor auch allein. Ich fürchte mich nicht davor, erneut allein zu sein.«
Wang-mu schüttelte erneut den Kopf, heftig diesmal. »Wie könnte ich dich verlassen, nun, da ich weiß, wie schwer es für dich ist?«
»Dann wird eines Tages geschrieben stehen und in einer Geschichte erzählt werden, daß Wang-mu während der Reinigungen niemals von Han Qing-jaos Seite wich.«
Plötzlich zeigte sich ein Lächeln auf Wang-mus Gesicht, und ihre Augen öffneten sich zu dem Blinzeln eines Lächelns, obwohl die Tränen noch auf ihren Wangen glänzten. »Hast du den Witz nicht verstanden?« sagte Wang-mu. »Mein Name – Si Wang-mu. Wenn man sich diese Geschichte erzählt, wird man nicht wissen, daß deine geheime Magd bei dir war. Man wird glauben, es sei die Königliche Mutter des Westens gewesen.«
Qing-jao lachte jetzt auch. Aber ihr kam auch eine Idee in den Sinn – vielleicht war die Königliche Mutter eine wahre Vorfahrin-des-Herzens von Wang-mu, und indem sie Wang-mu als ihre Freundin an ihrer Seite hatte, hatte sie auch eine neue Nähe zu dieser Göttin gefunden, die fast die älteste von ihnen allen war.
Wang-mu wollte die Schlafmatten auslegen, doch Qing-jao mußte ihr zeigen, wie es ging; die Vorbereitung des Nachtlagers war Wang-mus Pflicht, und Qing-jao mußte ihr diese Aufgabe Abend für Abend überlassen, obwohl sie nie etwas dagegen gehabt hatte, es selbst zu tun. Als sie sich niederlegten – ihre Matten berührten sich an den Seiten, so daß keine Linien der Holzmaserung zwischen ihnen zu sehen war –, bemerkte Qing-jao, daß graues Licht durch die Jalousien der Fenster fiel. Sie waren gemeinsam den ganzen Tag über wach geblieben und nun auch die ganze Nacht. Wang-mus Opfer war edel. Sie würde eine wahre Freundin sein.
Ein paar Minuten später jedoch, als Wang-mu schlief und Qing-jao gerade eindöste, kam ihr der Gedanke, wie es Wang-mu, einem Mädchen ohne Geld, gelungen war, den Vorarbeiter ihrer Abteilung der rechtschaffenen Arbeit zu bestechen, damit er sie heute ohne Störung mit ihr sprechen ließ. Konnte irgendein Spion das Bestechungsgeld für sie bezahlt haben, damit sie das Haus des Han Fei-tzu infiltrieren konnte? Nein – Ju Kung-mei, der Hüter des Hauses Han, hätte von solch einer Spionin erfahren, und Wang-mu wäre niemals eingestellt worden. Wang-mu hatte den Vorarbeiter nicht mit Geld bestochen. Sie war erst vierzehn, aber schon ein sehr hübsches
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